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Finstere Gründe

Finstere Gründe

Titel: Finstere Gründe
Autoren: Colin Dexter
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einen Augenblick an der Tür zum Speisesaal stehenblieb, war die Dame des Hauses schnell neben ihm und verlieh ihrer Hoffnung Ausdruck, er würde nichts dagegen haben, den Tisch mit jemand anderem zu teilen, nur für diesen Abend? Es seien ziemlich viele Gäste von außerhalb zum Dinner gekommen...
    Morse bat die Dame, sich deswegen keine grauen Haare wachsen zu lassen, und folgte ihr zu einem Tisch an der anderen Seite des Raumes, wo ein Gedeck gegenüber einer Frau aufgelegt war, die, das Gesicht halb zur Seite gewandt, die Times las, einen fast geleerten Teller mit Suppe aus Meeresfrüchten vor sich. Sie senkte die Zeitung, lächelte etwas geziert, als koste es sie einige Mühe, die angemalten Lippen zu einem mechanischen Gruß zu verziehen, und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf etwas offensichtlich Interessanteres, als Morse es war.
    Im Speisesaal waren fast alle Tische besetzt, und es war Morse bald klar, daß er als allerletzter bedient werden würde. Der Servierwagen mit den Desserts wurde herumgeschoben, und er hörte, wie das ältere Ehepaar rechts von ihm Pfirsiche in Karamelsoße mit Nüssen und Sahne bestellte, aber er spürte — ungewöhnlich für ihn! — kein Aufwallen von Ungeduld. Außerdem stand die Suppe bald vor ihm, der Wein hatte schon an seinem Platz gestanden, und rund um ihn herrschten Wohlwollen und Freude, ein leiser, stetiger Fluß von Unterhaltung und gelegentlich ein gedämpftes Fachen. Die Zeitung ihm gegenüber jedoch verharrte, im Augenblick jedenfalls, standhaft an ihrem Platz.
    Während des Hauptganges — er wurde bald nach ihr bedient — versuchte er es mit dem ersten, nicht eben originellen Zug.
    «Schon lange hier?»
    Sie schüttelte den Kopf.
    «Ich auch nicht. Genau gesagt, gerade angekommen.»
    «Ich auch.» (Sie konnte sprechen!)
    «Ich bin nur für ein paar Tage hier...»
    «Ich auch. Ich fahre am Sonntag.»
    Es war vermutlich die längste Mitteilung, die er von ihr bekommen würde, denn er sah, daß ihre Augen sich wieder nach unten auf das Perlhuhn gerichtet hatten. Und bei dem Perlhuhn blieben.
    Du kannst mich mal! dachte Morse. Doch trotzdem begann sein Interesse zu erwachen. Ihre unteren Zähne — vielleicht etwas zu lang? — standen dicht nebeneinander und waren leicht nikotinverfärbt, doch ihr Zahnfleisch war frisch und rosa, ihr voller Mund zweifellos attraktiv. Aber ihm fiel auch etwas anderes auf: Ihre gefleckten, schildpattfarbenen Augen schienen, obwohl mit künstlichen Schatten verschleiert, von einem traurigeren, dauerhafteren Schatten verdunkelt, und er sah ein kompliziertes kleines Gewirr von roten Finien in den äußeren Winkeln beider Augen. Sie könnte natürlich eine leichte Erkältung haben.
    Oder sie könnte früher am Tag ein wenig geweint haben...
    Als der Wagen mit den Desserts kam, war Morse froh, daß er erst die Hälfte vom Medoc getrunken hatte, denn etwas Käse würde gut dazu passen («Cheddar... Gouda... Stilton...» bot die Serviererin an). Er bestellte Stilton, wie auch die Frau gegenüber es getan hatte.
    Die Zeit für den zweiten Zug schien gekommen.
    Er versuchte es mit: «Wir scheinen fast den gleichen Geschmack zu haben.»
    «Anscheinend genau den gleichen.»
    «Mit Ausnahme des Weins.»
    «Hm?»
    «Würden Sie, äh... gern ein Glas Wein trinken? Er ist recht gut. Er paßt zum Stilton.»
    Diesmal schüttelte sie nur den Kopf und verschmähte es, eine verbale Erläuterung zu geben.
    Du kannst mich mal! dachte Morse wieder, als sie erneut die Times aufnahm, sie in voller Größe ausbreitete und sich selbst völlig versteckte — zusammen mit ihren Problemen.
    Die Finger, die die Zeitung hielten, stellte Morse fest, waren sehr schlank und geschmeidig, wie die einer professionellen Geigerin, mit nicht lackierten, makellos manikürten Nägeln, deren Halbmonde sich weiß über der gepflegten Nagelhaut wölbten. Auf dem Mittelfinger ihrer linken Hand trug sie einen schmalen goldenen Ehering, darüber einen Verlobungsring mit vier großen Diamanten in einer ungewöhnlichen Fassung, die in jedem heller beleuchteten Raum vielleicht gefunkelt hätten.
    An der linken Seite der aufgeschlagenen Zeitung hielt ihre rechte Hand das Blatt genau über dem Kreuzworträtsel, und er stellte fest, daß nur noch zwei Lösungen gefunden werden mußten. Vor ein paar Jahren hätten seine Augen wenig Mühe gehabt, doch jetzt konnte er, obwohl er einige Male heftig blinzelte, immer noch nicht die schwierige Formulierung des ersten Hinweises ganz
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