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Finns Welt - 01 - Finn released

Finns Welt - 01 - Finn released

Titel: Finns Welt - 01 - Finn released
Autoren: Oliver Uschmann
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steht blass wie eine Kreidepackung im Getreide, schaut auf den Boden vor sich und stottert: »Das … das kann nicht wahr sein!«
    Wir schauen auf die Stelle, auf die er starrt, und zucken zusammen. Ich schlucke schwer. Flo dreht sich um und kotzt ohne weitere Vorwarnung ins Feld. Im Getreide liegt tatsächlich ein verletztes Reh. Sein Bein ist so doll verdreht, dass der Knochen aus der Haut rausguckt, die mit blutigem Schorf an den Rändern aufgeplatzt ist. Das Tier hat die Augen und das Maul weit aufgerissen, aber es schreit nicht. Es hat so starke Schmerzen, dass es keinen Ton mehr herausbekommt. Ich erinnere mich daran, wie ich Frau Kobol damals von der Angst in den Augen des Tieres erzählte, damit meine Geschichte glaubwürdiger klingt. Jetzt sehe ich sie.
    »Ich habe auf der Straße nichts gesehen«, sagt Lukas. »Keine kaputten Leitplanken, keine Bremsspur.«
    »Wer weiß, wie lange es schon hier liegt«, sage ich und ziehe mein Handy aus der Tasche. »Das kann heute Nacht angefahren worden sein und sich bis hierher geschleppt haben.« Ich scrolle hastig durch mein Adressbuch.
    »Was machst du?«
    »Ich wähle die Nummer des Försters.«
    »Die hast du?«
    »Ja, sicher. Als wir Frau Kobol die Geschichte vom Reh erzählt haben, habe ich doch wirklich den Förster angerufen. Falls Frau Kobol ihn mal fragt.« Es tutet. Der Mann geht nach zweimal Klingeln ran. Ich erzähle ihm, dass wir heute Morgen wieder vor einem Tier stehen, dass dieses hier aber nicht mehr laufen kann. Ich beschreibe die Verletzung so genau, dass er mir sofort glaubt. Erleichtert klappe ich das Handy zu. »Er kommt«, sage ich.
    Flo hat sich nach seiner lauten und zügellosen Kotzerei wieder aufgerichtet und steht jetzt reglos vor dem Reh. Sein Gesicht ist wie versteinert.
    »Geh weg, wenn du das nicht sehen kannst«, sagt Lukas.
    Flo antwortet nicht. Er fixiert nur still das Reh. Als würde das halb tote Tier ihn mit seinen angsterfüllten Augen hypnotisieren.
    »Es ist wirklich okay«, sage ich. »Renn zum Bus, geh in die Schule, sag, wir kommen später.«
    Flo rennt nicht. Flo ist eingefroren, wie ein grausiges Standbild. Es dauert eine Minute, bis er endlich wieder spricht. Ganz leise, aber zugleich so laut wie ein Flüstern im Dunkeln. »Du hast eine Geschichte erfunden und sie ist wahr geworden.« Er dreht den Kopf zu mir. Ich runzle die Stirn. »Glaubt ihr, dass das möglich ist? Glaubt ihr, dass das Reh da jetzt so liegt, weil wir das letztens behauptet haben?«
    »Spinner!«, sagt Lukas.
    Flo bleibt ganz ruhig. Er wird immer noch vom Reh hypnotisiert. Es ist eine unheimliche Situation. Die Rehaugen. Der Knochen. Das Blut. Dazu Flos flüsternde Stimme, wie kaltes, klirrendes Glas. »Vielleicht wird jede Geschichte wahr, die man erzählt. Jedenfalls, wenn man sie so erzählt wie du.«
    Ich würde gern lachen und durch die Zähne pusten wie Lukas.
    Aber ich kann nicht.
    Still stehe ich vor Flo, bis wir am Feldesrand ein Auto hören. Wird jede Geschichte, die man erfindet, auch wahr? Wenn man sie so erzählt wie ich? Wenn jeder einem alles abkauft, weil man in dem Augenblick sogar selbst daran glaubt, dass es die Wahrheit ist? Nur für den Moment? Diese Gedanken kleben an mir wie Kletten und erst die Stimme des Försters reibt sie von meinem T-Shirt ab, als sie laut und kraftvoll durch die Ähren bricht.

DIE WAHRHEIT
    Den ganzen Unterricht lang hat Frau Kobol nichts gesagt. Wir sind erst in der Hälfte der zweiten Stunde angekommen und sie hat uns still auf unsere Plätze gewunken. Flo kam sogar ein paarmal dran und beantwortete einige Fragen. Aber jetzt, als es geklingelt hat und die anderen alle schon aus der Klasse rausrennen, hebt Frau Kobol die Hand, plustert ihre Hamsterbacken auf und sagt: »Lukas, Florian und Finn! Ihr drei bleibt hier!«
    Wir drehen uns um und schlendern gespielt lustlos auf das Pult zu. Frau Kobol lässt uns davor stehen und wartet lange, bis sie laut einatmet und den Mund aufmacht. »Wird das jetzt zur Regel?«, fragt sie. »Muss ich mich jetzt darauf einstellen, dass die Herren Lindner, Hertl und Anders dienstags immer erst zur zweiten Stunde kommen?« Ihre Stimme wird schon wieder höher. Die hysterische Möwe naht.
    »Frau Kobol«, sage ich, »so doof das auch klingt, aber wir haben heute Morgen wieder einem verletzten Reh geholfen.«
    »Aber natürlich.«
    »Wirklich! Rufen Sie den Förster an.« Ich halte ihr mein Handy hin. »Hier, ehrlich. Fragen Sie ihn. Letztens war es weg, heute lag es noch da.«
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