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Finns Welt - 01 - Finn released

Finns Welt - 01 - Finn released

Titel: Finns Welt - 01 - Finn released
Autoren: Oliver Uschmann
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Weizenähren. Das Getreide steht um diese Jahreszeit nicht mal hüfthoch. Ich bin wieder in meinem Beobachtungsmodus und überlege, was in der Straßenkurve mit den eingedellten Schildern passiert sein könnte. In der Ferne bellt ein Hund. Zehn Meter vor mir laufen die anderen, Lukas geht aufrecht und schaut stolz in die Gegend, als sei das Feld ein Stadion in Barcelona. Flo trollt sich einige Meter hinter ihm herum, duckt sich ein bisschen und beginnt, sich an Lukas heranzuschleichen. Was hat der denn vor? Will er ihn erschrecken? Will er sich rächen für vorhin, als Lukas mit dem Ast auf ihn eingedroschen hat?
    Ja, das will er wohl, denn nun rennt Flo los, springt mit dem rechten Bein voraus in Lukas’ Richtung und holt ihn von den Füßen. Der schreit, als Flos Schuh seinen Fuß trifft, und hält sich instinktiv den Knöchel. Er hebt ganz kurz die Hand, als könne er zwischen dem Getreide einen Schiedsrichter herbeiwinken. Als er selber merkt, wie albern das gerade aussehen muss, nimmt er die Hand runter und wird rot. Flo hüpft derweil herum wie Rumpelstilzchen in seinem Wald und johlt: »Meine Damen und Herren, eine fantastische Blutgrätsche von Pierre Glanz hier im Stadion von Arminia Mailand. Eine großartige Tritttechnik, wie man sie zuletzt in den Siebzigerjahren bei Placebo Contestador gesehen hat. Das ist das Aus für Fortuna Brüssel im RTL-Pokal …«
    »Halt die Klappe!«, bellt Lukas.
    »Ja«, sagt Flo und zeigt auf den Gefoulten, »so ist das nämlich mit den Fußballspielern. Auf dem Rasen markieren sie den ganz Dicken und im Getreide kann man sie ganz schnell von den Beinen holen. Und jetzt sag nicht, du warst noch nicht fertig!«
    »Du Vollpfosten!«, sagt Lukas und dreht sich auf die Knie. Jetzt sieht es aus, als wäre er ein kleiner Junge, der im Sandkasten sitzt. Er sieht sich um, nimmt in jede Hand einen Haufen Erde aus der Furche, in der der Weizen wächst, und wirft damit nach Flo. Der weicht dem ersten Haufen flink aus, kriegt den zweiten aber voll vor die Hose. Eine Sekunde später wälzen sie sich durch Krume und Stängel. Es sieht aus, als rolle ein Baumstamm durchs Feld, auf den man zu beiden Seiten wild um sich schlagende Männchen aufgeklebt hat.
     
    Zur ersten Stunde bei Frau Kobol kommen wir nicht zu spät, denn wir kommen überhaupt erst zur zweiten. Lukas und Flo mussten wieder nach Hause, neue Sachen anziehen. Gemerkt hat es niemand. Lukas’ Mutter war schon wieder im Bett, denn nachdem sie seine Stiefgeschwister in die Schule gebracht hat, macht sie jeden Morgen noch ein Nickerchen. Flos Mama macht um Viertel nach acht kein Nickerchen, weil ein Nickerchen bedeutet, dass man vorher schon mal wach war. Für sie ist Viertel nach acht aber noch tiefe Nacht. Frau Kobol allerdings, die ist wach wie ein aufgescheuchtes Huhn und sie legt los, als wir den Raum betreten: »Lukas, Florian und Finn! Beehren die Herren uns auch schon? Euch ist aber klar, dass die Schule nicht nur dazu da ist, damit ich euch beibringe, was es mit den alten Römern auf sich hat, also dafür natürlich auch, es ist nicht so, dass es nicht wichtig wäre, aber mindestens genauso wichtig ist, dass ihr lernt, Verantwortung für euch selbst zu übernehmen …«
    Schnatter, schnatter, kecker, kecker, tirili und tirila! Ich stelle mir vor, wie ihr kleine Flügelchen wachsen und sie beim Schimpfen abhebt. Jetzt reißt sie auch noch den Zeigefinger hoch wie eine Sängerin, die sich selbst dirigiert, und hebt dabei ihre Kinnspitze. »… und Verantwortung, das heißt, ganz elementar, zuallererst einmal Pünktlichkeit. Damit fängt es schon an. Wenn ich also jetzt einen Eintrag ins Klassenbuch mache, dann tue ich euch damit einen Gefallen fürs Leben, denn …«
    Ich unterbreche sie, indem ich einfach die Hand hebe und langsam, laut und deutlich ausrufe: »Ein Unfall!«
    Frau Kobol ist ruhig. Die Augen der Klasse und auch die meiner zwei Freunde sind auf mich gerichtet. Jetzt ist es meine Sache, eine Geschichte zu erzählen, die funktioniert. Schließlich ist es das, was ich kann. Mein Vater nennt das Fantasie. Meine Mutter nennt es lügen, ohne rot zu werden. Ich nenne es: eine andere Wirklichkeit machen.
    »Mein Vater ist doch Drucker«, sage ich und Frau Kobol nickt, denn das findet sie gut. Sie wohnt auch bei uns im Viertel und sie mag es, dass mein Vater heute noch Bücher und Flugblätter und Einladungskarten herstellt, wie es früher üblich war, mit großen Pressen und Druckerschwärze an den Fingern. »Heute
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