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Finnisches Requiem

Finnisches Requiem

Titel: Finnisches Requiem
Autoren: Taavi Soininvaara
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spürte, daß ihr die Haare an der Stirn klebten, aber sie hatte keine Lust, sich in die Dusche zu schleppen. Was, um Himmels willen, sollte sie heute essen? Nach Pastors Verschwinden war alles nur noch schwieriger geworden.
    »Verrückte gibt es überall, auch in den Irrenhäusern. George Bernard Shaw.«
Sie las den Text auf dem selbstgerahmten Poster und lächelte. Ihren Sinn für Humor hatte sie noch nicht verloren.
    Im Radio erklang das Zeitzeichen, es war vier Uhr. Dann hörte sie die ernste Stimme des Nachrichtensprechers: »Im Kunstmuseum Atheneum in Helsinki ereignete sich heute morgen ein schockierender Zwischenfall, bei dem der in Finnland zu Gast weilende EU-Kommissar Walter Reinhart erschossen wurde. Reinhart führte in unserem Land Gespräche über die Erweiterung der Europäischen Union. Die Täter konnten entkommen und wurden bislang nicht gefaßt. Die Verantwortung für die Bluttat hat laut Reuters eine Gruppe namens Freies Europa übernommen. Der deutsche Bundespräsident Johannes Rau brachte seine Erschütterung über das Geschehene zum Ausdruck. Rau bat Finnland, alles zu unternehmen, um die Schuldigen schnellstmöglich zu finden. Die Polizei hat in der Hauptstadt alle Ausfahrtstraßengesperrt. Die Sicherheitspolizei und die Kriminalpolizei haben noch keine …«
    Hannele rannte ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Das erste Programm und Mainos-TV brachten Sondersendungen. Die Moderatoren starrten Hannele mit todernster Miene an.
    Würde sich Pastor freuen, wenn er vom Tod des Kommissars erfuhr? Hannele war nie zuvor jemandem begegnet, der die EU und die Politiker so sehr haßte wie Pastor. Unzählige Male hatte er ihr gepredigt, daß die EU auf friedlichem Wege in Finnland das erreichen wolle, was die Sowjetunion im Winterkrieg und im Fortsetzungskrieg gewaltsam versucht hatte.
    Es gab nichts Schöneres, als seiner Stimme zuzuhören. Mit seiner Redegewandtheit hatte er sich auch den Beinamen Pastor verdient. So nannten ihn nur seine Freunde. Manchmal redete sich Pastor dermaßen in Ekstase, daß Hannele fürchtete, er könnte auch krank sein. Sie hatte das einmal zur Sprache gebracht, doch auch da hatte er seine Auffassungen so überzeugend begründet, daß sie seine Intelligenz nur bewundern konnte. Pastor war überdies ein perfekter Gentleman: Er stammte aus gutem Hause, war Jurist und ein ehemaliger Firmenchef, der die Welt gesehen hatte. Er wollte nur das Beste für seine Landsleute.
    Wäre Pastor froh über den Mord an dem Kommissar? Könnte sich ihr Geliebter über den Tod eines Menschen freuen? Sie erinnerte sich noch sehr genau, daß Pastor einmal gesagt hatte, die EU-Kommissare würden alle den Genickschuß verdienen.

4
    Riitta Kuurma riß die Tür zum schallisolierten Sitzungsraum A 310 der SUPO auf und erstarrte. Erik Wrede hatte die Arme von hinten um die Taille Jussi Ketonens geschlungenund bewegte den Chef der Sicherheitspolizei auf und ab wie einen Stößel im Butterfaß. Wrede bemerkte die Ankömmlinge, gab Ketonen aus dem Ringergriff frei und schaute betreten drein. Wegen seiner roten Haare und Sommersprossen wurde Wrede in der Sicherheitspolizei »Schotte« genannt.
    Doch Ketonen ließ sich nicht aus der Fassung bringen: »Die verdammte Bandscheibe tut wieder weh.« Der Chef betrachtete seine Untergebenen und erkundigte sich besorgt: »Ist bei euch alles in Ordnung?« Er strich sich die grauen Haare aus der Stirn und schob die Hände auf seinem runden Bauch unter die Hosenträger.
    Die Marathonläufer sahen mitgenommen aus: Ratamos Wanderschuhe waren offen, die Schnürsenkel schleiften auf dem Boden, und sein Flanellhemd hing über die Jeans. Riitta Kuurma hatte noch ihren Trainingsanzug an und trank regelmäßig aus einer großen Flasche. Beide stakten zum ovalen Beratungstisch, als hätten sie Holzbeine.
    »Wir haben nach dem Marathon keine Zeit mehr für Dehn- und Streckübungen gehabt.« Ratamo nahm sich eine Flasche Mineralwasser vom Tisch. Sein Magen knurrte. Bis auf das alte Käsebrötchen von der Raststätte »Pukaron Paroni« hatte er nichts gegessen.
    Man spürte die Spannung im Raum A 310. Seit dem Mord an Innenminister Heikki Ritavuori vor seinem Haus im Jahr 1922 war in Finnland kein politisches Attentat begangen worden. Noch nie hatte man in Finnland eine einflußreiche Persönlichkeit der Weltpolitik ermordet. Durch die Medien wälzte sich nun eine Flut von Nachrichten über den Mord. Daß die Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz von Reinhart versagt
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