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Finnisches Requiem

Finnisches Requiem

Titel: Finnisches Requiem
Autoren: Taavi Soininvaara
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bekam man nur einmal im Leben.

3
    Hannele Taskinen spürte in den Schläfen die ersten Anzeichen der Kopfschmerzen. Die Luft in der Einzimmerwohnung roch verbraucht. Vor drei Tagen hatte sie das letzte Mal gelüftet. Ihr fiel nichts ein, womit sie sich beschäftigen könnte. Das ständige Starren auf den Fernsehbildschirm war nicht gut für die Augen, und die vor einer Woche ausgeliehenen Bücher hatte sie alle gelesen. Vielleicht schaffte sie es, am Montag nach der Psychotherapie in der Bibliothek vorbeizuschauen.
    Warten und Untätigkeit lähmen den Menschen. Die neunundzwanzigjährige alleinstehende Invalidenrentnerin wußte das besser als jeder andere. Ihr Blick irrte durchs Zimmer und blieb an ihrem Abiturientenfoto hängen, dem einzigen, das sie aufbewahrt hatte. Das Bild zeigte ein hübsches, zierliches Mädchen mit dichtem Haar. Die ernsten, traurigen Augen verrieten allerdings schon ihre Krankheit.
    Hannele zog die Gardine des einzigen Fensters ihrer Wohnung auf und wurde für einen Augenblick vom Licht geblendet. Im September war es selten so sonnig und warm wie jetzt. Sie öffnete das Fenster, spürte den herben Geruch der Stadt und schaute hinunter auf ihre Straße, die Fleminginkatu. Es ärgerte sie, daß man von ihrem Fenster im zweiten Stock aus nur wenige Laubbäume sah.
    Am Samstagnachmittag waren auf der Straße wie immer etliche seltsame Gestalten unterwegs. Hannele erblickte eine Gruppe von Drogenabhängigen, die sie schon kannte. Das Trio war während der letzten Monate in wechselndem Zustand kreuz und quer durch den ganzen Stadtteil Kallio geirrt. Hannele wußte, wie das Leben eines Drogensüchtigen verlief. Anfangs konnte man ihn über Jahre fast jeden Tag auf der Straße sehen, und stets machte er einen verwirrten Eindruck. Irgendwann verschwand der Fixer dann für Monateoder Jahre entweder im Gefängnis, zur Entziehungskur, in der Nervenklinik, oder er hatte eine Arbeit. Problemfälle kehrten jedoch meist auf die Straße zurück und durchliefen diesen Zyklus mit jedem Mal schneller. Eines Tages verschwand der Drogenabhängige dann für immer.
    Hannele wartete nicht mehr Stunde um Stunde am Fenster auf Pastor; sein letzter Besuch lag Monate zurück. Sie hätte so gern gewußt, was ihm Anfang Juni zugestoßen war. Mit blutigem Kopf und total verwirrt war er damals mitten in der Nacht bei ihr aufgetaucht. Danach änderte sich alles. Er war im Ausland unterwegs und rief sie dann und wann an, bis schließlich vor einigen Wochen auch die Anrufe aufhörten. Doch Hannele wollte ihre Hoffnung nicht aufgeben, Pastor hatte versprochen, zurückzukehren und für immer bei ihr zu bleiben. Vielleicht würden sie dann heiraten. Pastor war anders als alle anderen, er war der einzige Mensch, dem sie vertraute.
    Hannele tat es gut, an ihn zu denken. Vor zehn Jahren hatten sie sich im Krankenhaus Hesperia in der Aufnahmestation kennengelernt, damals war Pastor durch den Streß bei seiner Arbeit ausgebrannt und brauchte Ruhe. Im Gegensatz zu ihrem Vater, ihrer Mutter oder den Ärzten mußte er sie nicht ertragen, und er verlangte auch nichts von ihr. Pastor war der erste Mensch, der sie wirklich gern hatte. Sie waren Seelenverwandte, beide wußten, wie das Leben diejenigen demütigte, die aus der Tretmühle herausfielen.
    Hannele schloß das Fenster und bemerkte, daß ihr Lieblingsbild schief hing. Die Kopie eines Gemäldes des Renaissancekünstlers Filippino Lippi war ein Geburtstagsgeschenk von Pastor. Das Bild stellte die Verehrung des Stiergottes Apis im alten Ägypten dar. Schon vor einer Ewigkeit auf dem Bauernhof ihrer Eltern hatte ein halbjähriges Kalb Hannele in sein Herz geschlossen; damals hatte sie sich in die Kühe verliebt. Manchmal glaubte sie, die Kuh sei die herrschende Gattung auf dem Planeten Erde: Sie hatte einegrößere Fläche für ihre Ernährung erobert als der Mensch. Wenn die Kühe den Menschen verdrängen und die Macht übernehmen würden, dann wäre diese Welt besser. Hannele erinnerte sich nicht, jemals eine boshafte, neidische oder eifersüchtige Kuh gesehen zu haben.
    Wasser spritzte auf den Geschirrstapel und in ihr Gesicht, als sie den verrosteten Hahn aufdrehte. Durch die Neuroleptika war sie müde und hatte einen trockenen Mund. Lustlos trank sie ein Glas Wasser und schaltete das uralte Kofferradio ein, das umgekippt in der Kochnische lag. Sie hörte nur Radio Suomi und Yle 1. Die kommerziellen Sender spielten übermäßig viel moderne Musik, die ihr zu aggressiv war. Hannele
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