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Finnisches Quartett

Finnisches Quartett

Titel: Finnisches Quartett
Autoren: Taavi Soininvaara
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Sinneswahrnehmung, er konnte den Schmerz, die Bedrohung, das Blut riechen. Und den Sieg … Und wenn die Bilder der ERSCHEINUNGEN über ihn herfielen, spürte er auch den schweißigen, von Kohle und Bier gewürzten Geruch des SOLDATEN. Den Geruch des Hasses und des Zorns. Und der Bestie.
    Die Bestie, die schon immer in ihm wohnte, lebte vom Haß und war nur im Zaum zu halten, wenn sie Rache üben durfte. Vor langer Zeit, als sich die Bestie noch mit Feuer zufriedengab, hatte er, um sie zu besänftigen, zunächst leerstehende Lagerräume, dann Garagen und Geschäfte und schließlich Wohnhäuser in Brand gesteckt. Aber die Bestie war stärker geworden, bis ihr das Feuer nicht mehr genügte. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel tauchte vor ihm das schmerzverzerrte Gesicht des Mädchens auf, das in der Shankill Road gestorben war; die Welt des Bösen schickte zuweilen Erscheinungen. Die hatte er nicht unter Kontrolle: Es waren Bilder von dem Finger, vom Soldaten, von sechsundsechzigeinhalb Penny …
    Die Bestie riß und zerrte an ihm, und die Bilder der Erscheinungen durchliefen ihn heiß, quälend, einladend: die helle Haut des Mädchens, das blitzende Messer, das in das Fleisch eindrang … Ezrael griff nach der Peitsche. Man mußte die Bestie im Zaum halten, ansonsten würde sie sich aus ihm herausfressen, bis sie frei war, und dann konnte sie nichts mehr aufhalten. Er schlug sich kräftig auf den Rücken, ein zweites Mal, Dutzende Male. Die Lederriemen klatschten schmerzhaft auf die Haut, zerrissen sie aber nicht. Die Bestie war schnell gezähmt, sie wußte, daß der nächste Augenblick der Rache unmittelbar bevorstand.
    Ezrael ging ins Bad, trat vor den Spiegel und strich sich die schweißnassen strohblonden Haare aus der Stirn. Dasrunde Gesicht, die großen Augen und die roten Wangen ließen ihn jünger aussehen, als er war. Seine Gesichtszüge waren schön, kindlich und vollendet, das hatte ihm der BOTE einmal vor langer Zeit gesagt. Nach Meinung des Boten sah er aus wie ein Engel. Nur der verkrüppelte Fingerstumpf an der linken Hand erinnerte daran, daß auch er nicht vollkommen war. Auch ihn hatte man auf die Probe gestellt wie Hiob, das war das Schicksal der AUSERWÄHLTEN,
»… denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat.«
    Der Augenblick der Rache rückte näher, es war an der Zeit, daß er seinen Auftrag noch einmal durchging. Auf dem kleinen Tisch lag ein Buch; die goldgelben Fransen des ausgefaserten Leineneinbands schaukelten, als Ezrael sein Evangelium aufschlug. Seit seiner Kindheit hatte er alle Wunder und OFFENBARUNGEN aufgeschrieben, in der Hoffnung, daß man sein Buch eines Tages als »Ezraels Evangelium« bezeichnen würde. Er nannte es jetzt schon so.
    Ezrael hatte immer gewußt, daß er anders, daß er etwas Besonderes war. Bereits vor langer Zeit, schon in der Kindheit, als er noch in der Welt des Bösen lebte, hatte er seine Suche begonnen. Viele endlose, graue Jahre hatte er vergeblich einen Auftrag gesucht, erbeten. Geändert hatte sich alles erst dann, als er zum erstenmal betete, der Soldat solle aufhören, ihn zu schlagen, und der hatte wirklich aufgehört. Danach war ihm der Gottesdienst jeden Sonntag nicht mehr als Zwang erschienen – er hatte einen Verbündeten gefunden.
    Ezrael blätterte in seinem Evangelium, bis er bei den abgegriffenen Seiten mit den Eintragungen aus seiner Kindheit anlangte. »Ich bin AUSERWÄHLT worden«, hatte er mit zehn Jahren geschrieben. Die Eintragung stammte aus der Zeit, bevor er den Auftrag erhalten hatte, aus seiner Zeit der Heimsuchung. In deren Verlauf hatte man ihn mit Offenbarungenvorbereitet. Im nachhinein erschien es nur natürlich, daß es drei gewesen waren: Denn auch Jonas verbrachte seinerzeit drei Tage und drei Nächte im Bauch des Wals; der MEISTER sagte, er habe den Tempel innerhalb von drei Tagen neu errichtet, Petrus verleugnete den Meister dreimal, der Allerhöchste ist dreifaltig, die Wiederauferstehung des Meisters geschah am dritten Tag …
    Er las die Berichte über seine drei Offenbarungen, als wäre es das erste Mal, obwohl er sogar ihre kleinsten Details auswendig kannte. Die erste Offenbarung hatte er gehabt, nachdem er den mit Ölfarben selbstgemalten Engel »Boten« genannt hatte. Die zweite, nachdem er um eine Offenbarung gebeten hatte, als er die Bibel an einer zufälligen Stelle aufschlug und die ersten Sätze las, die ihm ins Auge fielen:
»Siehe, ich sende meinen Boten,
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