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Finne dich selbst!

Finne dich selbst!

Titel: Finne dich selbst!
Autoren: Bernd Gieseking
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mit hohen Scheiben versehen, man blickt also nach draußen in den Park. In diesem Raum steht mächtig, schmal, ausgreifend die Figur »Der Schreitende«. Das Zusammenwirken von Kunstwerk, Raum und Natur als Hintergrund hat eine unwiderstehliche Wirkung auf mich. Hier steht die Figur nicht allein, sondern bekommt in der Rauminszenierung noch mal einen magischen Aspekt. Das Durchschreiten der Welt, der Lebensbahn.
    Helenas Satz fällt mir wieder ein: »Die Menschen haben keine Wurzeln, sie haben Füße. Damit gehen sie, damit die Welt sich dreht.« Wir gehen um die Figur herum, schauen und schweigen.
    Dann betreten wir die Sonderausstellung. Munch und Warhol. Der Pop-Artist trifft auf den Klassiker der skandinavischen Kunst. Die Räume, die Wände ganz in Schwarz, nur spärlich beleuchtet, ich muss unsere leicht schwindelnde Ilse an der Hand hindurchführen. Wir bleiben vor einem der berühmtesten Bilder der Welt stehen. Munchs Schrei.
    »Kenn ick«, sagt Ilse. Und meint, inmitten der internationalen Besucherschar, in die meditative Stille der dunklen Räume hinein trocken zu Hermann: »Dor härn de mi ok fotografieren kürnt, wenn ick di manchmoal erlierwe. Denn könn ick ok schran!« Da hätten die auch mich fotografieren können, wenn ich dich manchmal erlebe. Dann könnte ich auch schreien!
     
    Schweigend fahren wir durch Dänemark, nehmen die Fähre nach Deutschland und überqueren die Fehmarn-Sundbrücke. Meine Eltern sind früher bereits einige Male nach Fehmarn gefahren. Das Navigationsgerät zeigt noch 351  Kilometer an. Ilse sagt: »War Fehmarn damals eigentlich auch so weit weg von Minden?«
    »Nee, das war früher näher«, kommt es hinten von Hermann.
    Dann schweigen wir für die restlichen 351  Kilometer.
    Das war früher näher – waren wir früher mal näher? Wie weit weg sind Eltern überhaupt? Meine Eltern sind mir auf dieser Reise viel näher gerückt. Eigentlich waren sie immer nah. Ich habe es nur nicht immer gewusst. Also hat die Entfernung gestimmt.
    Kurze Rast. Eine SMS . Von Axel: »Wie läufts?«
    »Alles gut. Schätze, sie werden auswandern, und dann hast du sie am Hals!«
    »Dann kommen sie als Holzwarte ins Sauna
-mökki.«
     
    Schließlich sind wir zurück in Kutenhausen. 22  Uhr. Es ist bereits dunkel zu einer Zeit, wo es in Finnland gerade mal dämmert. Wir laden den Wagen aus. Als Hermann ins Haus geht, kommt meine Mutter zu mir und nimmt mich in die Arme. »Danke«, sagt sie. Ich bin überrascht. Ich schlucke.
    Wir hören Hermanns Schritte im Hausflur, und sie lässt mich sofort los, schnappt sich eine Tasche und geht ins Haus. Zwei Gepäckstücke später kommt Hermann: »Hör mal, Großer«, sagt er und umarmt mich. »Danke. Hätten wir ohne dich gar nicht machen können, wie es aussieht.« Ich schlucke wieder.
    Wir hören Ilse und greifen uns »dän Korff«. Ich gebe Ilse den Eimer. Der war unbenutzt geblieben. »Häst du gor nicht e brucket!« Hast du gar nicht gebraucht.
    »Besser ist das!«, sagt Ilse.
    »Dann war wohl nix zum Kotzen unterwegs«, flachst Hermann augenzwinkernd.
    In diesem Moment brummt mein Handy. Isabel.
    »Wann kommst du?«
    »Ütt oll wier?«, fragt meine Mutter. Sie schon wieder?
    Ich zucke mit den Schultern und tippe: »Bleibe noch hier.«
    »Ich warte auf dich. Schon seit drei Wochen.«
    Ich antworte nicht.
    Zwei Minuten später die nächste Nachricht: »Bernd. Ich habe jemanden kennengelernt. Ich glaube, ich bin verliebt.«
    »Ich auch. In ein ganzes Volk.«
    »Dann war es das mit uns!«
    Ich schaue verdutzt auf das Display meines Handys. Hermann sieht mich fragend an.
    »Sie hat grad mit mir Schluss gemacht.«
    »Dann kannst du jetzt wenigstens das viele Telefongeld sparen«, sagt Ilse pragmatisch.
    Wir schauen hoch zum Mond. Wir schweigen.
    Etliche Minuten später meint Hermann: »Und?«
    »Muss!«
    »Ja, denn!«
    Wir schweigen weiter. Ein Igel raschelt im Gebüsch.
    »Un? Schlöpst du hier vonnacht? Oder wutt du no noa Dortmund?«, fragt Ilse.
    »Ich goa wier int Hotel.«
    »Worümme? Is doch billiger hier to huse.«
    Ich kann ihr das nicht erklären, aber ich brauche diesen Abstand. Damit die Distanz stimmt, um genügend Nähe haben zu können. Das Verhältnis zu meinen Eltern ist wunderbar – wenn der Abstand stimmt. Ich stehe auf und umarme meine Eltern. Beide. Erst Ilse, dann Hermann. Lange. Dann gehe ich zum Auto.
    Hermann grinst und winkt mir nach: »Gute Fahrt und gute Nacht. Und – finne dich selbst!«

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