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Finne dich selbst!

Finne dich selbst!

Titel: Finne dich selbst!
Autoren: Bernd Gieseking
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Stirnlampe und beleuchtete damit seine Noten. In der Mitte stand der Pastor und trug ebenfalls eine Stirnlampe, mit der er auf seine Liedtexte leuchtete. Bei den meisten Liedern sang die kleine Gemeinde mit. Sie hielten dazu Kerzen oder Taschenlampen in den Händen. Sofort wurde auch mir ein Liederheft in die Hand gedrückt. Freundliches Nicken. Alle schienen Lilja zu kennen. Nach dem Konzert wurden wir zu
glögi
und Keksen und
karjalanpiirakka
, karelischen Piroggen, eingeladen.
    Dann betrat der finnisch-orthodoxe Priester die Kirche. Er war dick eingemummt und trug einen Hartschalenkoffer. Lilja flüsterte mir zu, er sei der
rovasti
, der Probst dieser Gemeinde, und bereite den Gottesdienst vor. Der Priester rückte den Holzaltar von der Wand ab und platzierte ihn zentral. Während wir noch
glögi
tranken, holte er seine »Amtskleidung«, Altartücher, Kreuze, Kandelaber und andere religiöse Insignien, Kerzen, Tücher, die Heilige Schrift aus dem Koffer und baute sie auf dem Altar auf. Kirche to go! Nachdem er alles angerichtet hatte, stellte er sich zu uns und nahm genussvoll vom
glögi
.
    Am nächsten Tag besuchten wir das Museum
Siida
. Unterwegs kamen wir am Inari-See vorbei, und Lilja erzählte vom Ukonkivi, dem heiligen Ort der Sami auf Ukonssari, einer Insel im Inari-See. Dann kamen wir zum Museum. Kultur und Geschichte des samischen Volkes und die Natur Lapplands. Pflanzen, Tiere und Jahreszeiten, sind aufwendig dokumentiert und faszinierend aufbereitet. Hier oben werden ungewöhnliche Ereignisse museal: 1925 wurde der erste Außenbordmotor auf dem Inari-See benutzt. 1962 fuhr der erste Motorschlitten in Nordlappland. Und 1987 erschien erstmals ein Comic von Donald Duck in samischer Sprache.
    Wir fuhren zurück nach Hause. Die beweißten Tannen in der Landschaft sahen aus wie verwunschene Gestalten. Immer wieder kreuzten Rentiere die Straße. Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 80  Stundenkilometern fuhr ich nie, denn die Straße war vereist, und der stete Rentierwechsel zwang zur Vorsicht. Ich war fasziniert von den Tieren. Jedes Mal hielt ich und schaute und staunte. Wir beschlossen spontan, eine Rentier-Schlittentour zu unternehmen. Das zählt zu den winterlichen Vergnügungen in Lappland und ist so romantisch wie archaisch, im Einzelfall aber auch einfach mal arktisch-saukalt. Heute: 24 Grad minus.
    Am nächsten Tag wurden Lilja und ich um zehn Uhr vom Veranstalter in Saariselka eingesammelt. Der Morgen hellgraute in milchigem Blau. Im Kleinbus warteten bereits vier Touristen aus Japan. Wir fuhren über verschneite Waldwege zu einer kleinen Farm. Es wurde ausschließlich englisch gesprochen. Mikka, unser Busfahrer, und Anneli, unser Tourguide, waren Samen. Sie trugen die traditionelle Kleidung, blaue Gewänder, rot-gelb abgesetzte Bordüren. Einen reich verzierten Gürtel, in dem das Finnenmesser steckte. Schuhe aus Rentierleder mit hochgewölbter Schuhspitze.
    Wir wurden eingekleidet und bekamen Wintereinteiler, Thermokleidung, die wir über unsere Garderobe zogen, dazu Überstrümpfe und gefütterte Stiefel und dicke Handschuhe. Ich fühlte mich wie das Michelin-Männchen. Anneli hatte mir den Anzug mit den Worten: »Ist an den Beinen etwas lang, aber dafür nicht so eng am Bauch!« überreicht. Danke schön! Gut, dass hier nirgends ein Spiegel hing. Dann wurden wir zu den Rentieren geführt. Sie blieben gelassen bei meinem Anblick. Ich hatte wegen des Thermoanzugs mit Fluchtreflexen gerechnet.
    Ich hatte gehofft, wir dürften unsere Schlitten selber lenken, aber das war leider nicht möglich. Hier hatte zwar jeder Schlitten sein eigenes Rentier, aber es war an den jeweils vorangehenden gebunden. Wir wurden zu einer Reihe mit eingeschirrten Rentieren gebracht. Die Asiaten waren top drauf. Rentier kennt man gar nicht in diesen Ländern, in denen Hund zu den traditionellen Nahrungsmitteln gehört. Meine mitreisenden Asiaten hatten Respekt vor Getier und Gehörn, ich hingegen war etwas enttäuscht. Speziell von meinem Schlittentier. Es hatte sein Gehörn bereits abgeworfen. Irgendwie überfiel mich ein Kastratengefühl. Die Rentiere vor den Schlitten sind zwar allesamt kastrierte Bullen, aber andere Schlittentiere protzten wenigstens männlich mit prächtig gewundenen Rentiergeweihen.
    Mikka brachte uns jetzt noch einen blauen Samenponcho. Damit sahen wir nur noch halb so bescheuert aus, denn der Poncho legte sich über uns wie der Schnee über die Landschaft und er bedeckte unsere Unförmigkeiten.
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