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Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)

Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)

Titel: Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
Autoren: Martina Konrad
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gelähmt und horchte auf eine Stille, die so allumfassend war, dass man meinen konnte, es gäbe gar keine Geräusche mehr auf der Welt.
    Erst als der alte Mann mit einem Keuchen die Luft aus seinen Lungen entweichen ließ, bemerkte er, dass er nicht etwa taub geworden war, sondern dass die Welt tatsächlich einen Moment lang den Atem angehalten zu haben schien. Dann, plötzlich, begannen alle Hunde der Umgebung wie auf Kommando zu bellen. Hinter den Fenstern der Häuser gingen die Lichter an, und aus den Haustüren traten Menschen, verwirrt und in ihrer Nachtkleidung, um zu erfahren, was passiert war.
    Der alte Wilhelm bekam nichts davon mit. Er war, so schnell es seine alten Beine zuließen, quer über den Platz gelaufen, hin zu den steinernen Kirchenstufen von St. Bonifaz, auf dem ein kleines Bündel lag – ein Baby, eingewickelt in wunderbar warme Decken, ein kleines Menschlein, welches den Blitz und den Donner, welches den ganzen Wirbel einfach verschlafen hatte.
     
     
     
    Neun Jahre später
     
    „Finn, wo steckst du nur wieder?“
    Der Junge verdrehte genervt die Augen, stopfte sein Buch unter die Matratze, wo es, wie er hoffte, vor den anderen Jungen, vor allem dem kleinen Karl, sicher war, und ging der Stimme nach. Rosie klang ziemlich genervt, aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie nie lange böse sein konnte. Angestrengt überlegte er, was er angestellt haben konnte. Die Hausaufgaben hatte er erledigt, das Unkraut gejätet – mit wenig Begeisterung, aber doch so ordentlich, wie er konnte. Unkraut zu jäten war jetzt im zeitigen Frühling eine langweilige Pflicht, aber Finn sah ein, dass sie getan werden musste, damit das Gemüse gut wuchs und alle Kinder im Kinderheim genug zu essen hatten. Finn wusste, wie alle Kinder des Heimes, dass das Kostgeld für die Bewohner nicht gerade üppig bemessen war, und dass gespart werden musste, wo es nur ging.
    Manchmal wünschte er sich, er hätte auch Eltern, reiche Eltern wenn möglich, so wie Gustav, der Sohn des Kaufmannes. Gustavs Eltern hatten als erstes in Burgfeld ein Auto gehabt, und auch wenn es inzwischen noch mehrere andere stolze Autobesitzer gab, vergaß Gustav doch nie, zu erwähnen, dass das Auto seines Vaters das Teuerste gewesen war. Außerdem trug Gustav immer Lederschuhe in der Schule, im Sommer wie auch im Winter, während die meisten anderen Kinder zumindest im Sommer barfuß durch die Straßen zogen.
    Lederschuhe, das wäre schon etwas Feines,  dachte Finn. Auch das Auto. Am schönsten aber wäre es doch, zum Mittagsbrot schnell nach Hause laufen zu können und alle Tage Fleisch zu essen wie Gustav, statt sich mit dem Brot auf die Schulbank zu setzen, ein Tuch über die Knie gelegt und dort das Schulbrot ausgebreitet, wie fast alle anderen Kinder es machten. Fleisch, fand Finn, gab es wirklich viel zu wenig.
     
    „Finn!!!“
    Der Junge schrak zusammen. Rosies Stimme war nun schon ganz in der Nähe, und wenn sie ihn beim Träumen erwischte, konnte es gut sein, dass sie ihn am Ohr zog oder ihm einen Nasenstüber verpasste. Nicht, dass das wehtäte. Finn wusste, dass Rosie ihn liebte. Er wusste allerdings auch, dass sie sich unbedingt für ihn wünschte, er möge auf die höhere Schule kommen, und das war schon für einen normalen Jungen, selbst für einen Gustav mit Eltern, die ein Auto hatten, nicht so ganz einfach. Für einen Waisenknaben, der dazu den halben Tag verträumte, war es beinahe unmöglich.
    „Bin doch schon da“, rief er, spurtete um die Ecke und rannte Rosie fast um.
    Rosie schüttelte ungehalten den Kopf, während sie versuchte, dem Blick von Finns großen, blauen Augen zu widerstehen. Aussichtslos. Finn wusste genau, wie er sie um den Finger wickeln konnte und tat dies auch. Soweit sie sich erinnern konnte, an jedem einzelnen Tag seines Lebens.
    Manchmal dachte Rosie an den Tag zurück, als Finn zu ihnen ins Waisenhaus gebracht worden war, von dem Polizisten und dem alten Nachtwächter. Die beiden Männer hatten so energisch an der Tür geklopft, dass nicht nur Fräulein Winter, die Waisenhausvorsteherin, sondern auch gleich sämtliche Kinder aus ihren Betten gesprungen waren und nun in der eisigen Kälte des Treppenhauses in ihren Nachthemden gestanden und neugierig gelauscht hatten.
    Ein neues Baby! Rosie hatte das Herz bis zum Hals geschlagen. Sie wusste, dies würde ihr Baby werden, ein Baby, das sie umsorgen und lieben konnte, und ein wenig hoffte sie, das neue Kind sei ein Mädchen, damit sie ihm die
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