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Final Cut - Etzold, V: Final Cut

Final Cut - Etzold, V: Final Cut

Titel: Final Cut - Etzold, V: Final Cut
Autoren: Veit Etzold
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fressen.
    Dieser Abschnitt hatte sich Clara auf seltsame Weise eingeprägt. Nicht nur, weil die Vorstellung eines gefräßigen Drachen, der ein unschuldiges kleines Kind verschlingen will, so erschreckend war, sondern weil Clara sich ständig an ihre eigene Situation erinnert fühlte, an ihre Schwester Claudia, auf die sich ebenfalls ein Drache des Bösen gestürzt hatte. Doch während in der Bibel das Kind vom Erzengel Michael gerettet wird, der den Drachen – den Satan – besiegt, hatte Claras Drache ihr alles genommen.
    Wenn Gott wirklich so gütig ist, wie die Kirche behauptet, warum interessieren wir Menschen ihn dann so wenig? , fragte sich Clara. Wo ist Gott, wenn man ihn braucht? Ist Leben immer Leiden? Und wenn das Leben die Folter des Körpers ist, ist die Hölle dann die Folter der Seele?
    Clara verharrte schweigend vor der Marienstele, während die Kerzen das Halbdunkel des Kircheninneren in einen Flickenteppich aus Licht und Dunkel verwandelten.
    Maria , dachte sie. Der einzige Mensch in der Geschichte der Schöpfung, der angeblich vollkommen rein und ohne Sünde gelebt hat. Und die Beförderung folgte prompt: Mutter des Gottessohnes, Königin des Himmels.
    Doch wenn es überall so viel Reinheit gäbe, müsste Clara sich einen neuen Job suchen.
    Sie warf einen Euro in den Messingbehälter und zündete gleich zwei Kerzen für Claudia an. Ich werde dich nie vergessen , sagte sie in Gedanken, während sich zwei weitere Lichter dem Flickenteppich der Farben im halbdunklen Gewölbe hinzugesellten.
    Ein metallisches Geräusch ließ Clara zusammenzucken. Ein großer, kräftiger Mann warf ebenfalls Münzen in den Behälter und zündete eine Kerze an. Seine Bewegungen besaßen eine Geschmeidigkeit, wie Clara sie bei Mitgliedern von Sondereinsatzkommandos gesehen hatte. Seine Haare waren blond und sehr kurz geschnitten, und er trug eine Brille aus mattem Edelstahl.
    »Wahre Schönheit ist immer unnahbar, nicht wahr?«, sagte er, schaute auf die Marienfigur und blickte dann Clara an. Seine linke Hand zuckte ein wenig, als er die Kerze auf den Boden stellte.
    Clara nickte bloß. Der Mann war nicht unsympathisch, aber ihr war nicht nach Reden zumute.
    Der Mann schien es zu bemerken. »Entschuldigung«, sagte er und trat zurück. »Ich wollte Sie nicht belästigen. Auf Wiedersehen.«
    Clara verharrte vor der Statue und blickte dem Fremden hinterher, während die zwei Kerzen, die sie angezündet hatte, flackerndes Licht und huschende Schatten auf das Antlitz Marias warfen.

6.
    Alles ekelt mich an. Die Menschen, das Leben und ich mich selbst. Manchmal glaube ich, ich bin schon seit Jahren tot, und man hat nur vergessen, mich zu begraben. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte den Selbstmord, den ich damals am See vorgetäuscht habe, wirklich begangen. Damals habe ich einen Abschiedsbrief geschrieben, bin ins Wasser gestiegen, weit hinausgeschwommen und habe meine Jacke in der Mitte des Sees gelassen. Dann zurück zum Ufer – und dann habe ich das Heim nie wiedergesehen. Seitdem halten mich alle für tot, und so soll es auch sein.
    Vielleicht bin ich ja wirklich tot. Vielleicht ist das, was ich jetzt für die Wirklichkeit halte, nur ein Traum. Und falls ich noch lebe, soll ich jetzt Ernst machen? Eine Überdosis Insulin oder Schlaftabletten, ein stabiler Balken und ein Strick an der Decke, ein schneller Schnitt mit einer Rasierklinge?
    Aber ich habe eine Mission zu erfüllen. Das Mädchen heißt Jasmin. Sie hat heute bei Facebook in die Welt posaunt, dass sie übers Wochenende nach Hannover fährt. Also kann ich in ihrer Wohnung ungestört alles vorbereiten. Ich habe sie am Hauptbahnhof gesehen. Viele haben sie gesehen, und viele haben ihr mit gierigen Blicken hinterhergestarrt. Denn sie sah aus wie Elisabeth damals. Schön, blond und strahlend.
    Auch der Kerl Ende zwanzig, mit dem sie am Bahnhof einen Kaffee getrunken hat, war scharf auf sie. In den Augen dieses Typen habe ich gesehen, dass er die Blonde haben wollte, unbedingt, doch in der dumpfen Verzweiflung, die hinter der Gier in seinem Blick schlummerte, lag Hoffnungslosigkeit. Der Kerl wusste, dass er die Blonde niemals kriegen wird. Er wusste, dass sie wahrscheinlich froh war, als sie zum Zug musste und einen Grund hatte, ihn loszuwerden.
    Warum hatte der Kerl sich überhaupt mit ihr getroffen? Er muss doch gewusst haben, dass die Begegnung eine Begierde in ihm weckt, die nie gestillt werden kann und die ihn für lange Zeit unglücklich machen
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