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Feuernacht

Feuernacht

Titel: Feuernacht
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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nicht so weit, im Dunkeln neben ihrem Bett umherzutasten. Hoffentlich würde das irgendwann möglich sein.
Hoffentlich
war wohl nicht das richtige Wort, es
musste
möglich sein. Sonst würde sie durchdrehen.
    Das Wasser in der Küche war lauwarm, und Berglind ließ es eine Weile laufen. Währenddessen starrte sie hinaus auf die vertraute Straße und die Häuser der Nachbarn auf der anderen Seite. Überall war es dunkel, nur in der Garage direkt gegenüber schien jemand vergessen zu haben, das Licht auszuschalten. Hinter einem offenstehenden Fenster schwang ein russischer Kronleuchter in einer leichten Brise hin und her. Ansonsten lag die Häuserreihe im Dunkeln. Der gelbliche Schein der Straßenlaternen reichte nicht bis in die Gärten und erlosch hinter dem Bürgersteig. Dort begann die Finsternis. Berglind schaute hangabwärts über die Hausdächer und vergaß das Wasser, während sie ihren Blick über den Vesturlandsvegur schweifen ließ, bis zu der Stelle, an der die Straße unterhalb ihres Wohnviertels Richtung Kjalarnes abschwenkte. Ein Auto fuhr vorbei, und Berglind meinte, ein quietschendes Geräusch zu hören, als der Wagen durch die regennassen Fahrrillen rollte, die damals vielleicht ihren Teil zu dem Unfall beigetragen hatten, obwohl ganz anderes Wetter gewesen war. Die Straße musste dringend ausgebessert werden, aber in der nächsten Zeit würde wohl kaum etwas passieren. Berglind löste ihren Blick vom Fenster und hielt das Glas unter den Wasserstrahl.
    Wenn sie doch nur die Weihnachtsfeier abgesagt hätten. In ihrer Erinnerung hatten sie eigentlich gar keine Lust gehabt, sich aber von Freunden überreden lassen. Und wenn es doch anders gewesen war, wollte sie das gar nicht wissen – es war leichter, mit den Folgen klarzukommen, wenn andere dafür verantwortlich waren, dass sie beschlossen hatten, sich schick zu machen, einen Babysitter zu besorgen und hinzugehen. Seitdem hatten sie keinen Babysitter mehr gebraucht. Ihre Freizeitaktivitäten beschränkten sich auf das Haus und auf Orte, zu denen sie ihren vierjährigen Sohn mitnehmen konnten.
    Es war unmöglich, sich Abende vorzustellen, an denen sie sich amüsierten, während ein Babysitter ihr Kind betreute – nicht nach dem schicksalhaften Abend und den darauffolgenden Ereignissen. Zum tausendsten Mal zerbrach sich Berglind den Kopf darüber, ob alles anders verlaufen wäre, wenn sie die Weihnachtsfeier abgesagt oder zu Hause nichts getrunken hätten, um sich den Aperitif im Restaurant zu sparen, aber diese Überlegungen führten zu nichts. Sie hatten die Einladung angenommen und Vorbereitungen getroffen, um abends ausgehen zu können. Berglinds Blick wanderte automatisch wieder zum Fenster, und sie starrte auf den schwarzen Asphalt der Schnellstraße, die sich wie ein dunkler Fluss an ihrem Viertel vorbeischlängelte. Sie schloss die Augen, und in ihrem Kopf tauchte sofort wieder das Bild auf, das sie an jenem schrecklichen Abend gesehen hatte. Die Blinklichter des Krankenwagens und der Polizeiautos, die den blassen Schein der Lichterkette am Dachfirst des gegenüberliegenden Hauses im dichten Schneefall übertrumpften. Dieselbe Gewissheit, mit der Berglind rückblickend daran glaubte, dass sie eigentlich gar nicht an der jährlichen Weihnachtsfeier teilnehmen wollte, sagte ihr auch, dass ihr damals sofort klar gewesen war, dass der Unfall auf der Schnellstraße mit der Babysitterin zu tun hatte, die verspätet und noch nicht eingetroffen war.
    Sie schlug die Augen auf und trank gierig Wasser. Die Gesichter der verzweifelten Eltern des Mädchens, die sie nach dem Unfall ein paar Mal getroffen hatten, würden Berglind für den Rest ihres Lebens verfolgen, wahrscheinlich bis ins Grab. Selbstverständlich gab ihnen niemand die Schuld an dem Unfall, jedenfalls nicht direkt, aber Berglind sah in den tränennassen Augen der Mutter, dass sie Berglind und Halli auf gewisse Weise dafür verantwortlich machte – dass sie die Einladung nicht hätten annehmen oder die Babysitterin zumindest hätten abholen sollen. Dann hätte ihre Tochter die Straße nicht überquert und wäre noch am Leben. Sie war immer nur in ihr Wohnviertel gekommen, um auf Pési aufzupassen. Aber weil Berglind und Halli sich hatten überreden lassen, befand sich das Mädchen genau zu der Zeit an genau dieser Stelle, als ein skrupelloser Mensch sie überfuhr, ohne sich noch einmal umzudrehen oder nachzuschauen, ob er dem Kind, das wie ein Häufchen Elend auf der Straße lag,
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