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Feuernacht

Feuernacht

Titel: Feuernacht
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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voller Reue und hatte es verdient, eine zweite Chance zu bekommen, oder war er ein unheilbarer Krimineller, den es nach weiteren Opfern verlangte?
    Dóra klingelte an der Tür und schaute sich um. Sie sah, wie zwei Männer in aller Ruhe zu einem kleinen Gewächshaus schlenderten und mit ihren Eimern darin verschwanden. Wenn sie nicht alles täuschte, hatte der eine Mann das Down-Syndrom. Die Haustür ging auf, und eine Frau in einem weißen Kittel, den sie offen über einer Jeans und einem verschlissenen Pulli trug, stand in der Türöffnung. Der Kittel sah genauso mitgenommen aus wie der Pulli; zahllose Waschgänge hatten das Logo des Landeskrankenhauses ausgebleicht.
    Die Frau stellte sich als wachhabende Krankenschwester vor und bat Dóra herein. Sie begleitete sie zur Garderobe und unterhielt sich höflich mit ihr über die Fahrt und das Wetter. Anschließend führte sie Dóra durchs Haus und öffnete eine Tür zu einem freundlichen, aber ziemlich verlebten Wohnzimmer, wo das Gespräch stattfinden sollte. Durch ein großes Fenster konnte man den Garten und das kleine Gewächshaus sehen, in dem die beiden Männer sich jetzt über einige hübsche Pflanzen beugten. Die Frau erzählte Dóra, das Gewächshaus sei von einer großzügigen älteren Dame finanziert worden, deren zweijährige Tochter vor über sechzehn Jahren von einem psychisch kranken Mann ermordet worden war. Das Mädchen hatte den Mann nicht gekannt und nie zuvor gesehen. Die Großzügigkeit der Frau nach all diesen Jahren sei wirklich bewundernswert. Als Dóra diese Geschichte gehört hatte, war sie gar nicht mehr begeistert von dem Wohnzimmer, das kaum Schutz vor möglichen Angriffen bot. Am liebsten hätte sie das Gespräch hinter einer kugelsicheren Glaswand geführt. »Bin ich hier sicher?«, fragte sie und musterte die bestickten Kissen, die auf den Sofas und Stühlen verteilt waren.
    »Ich bin direkt nebenan«, sagte die Frau, ohne eine Miene zu verziehen. »Ruf einfach, wenn was ist, dann reagieren wir sofort.« Sie merkte, dass Dóra immer noch irritiert war, und fügte hinzu: »Jósteinn tut dir nichts. Er ist seit fast zehn Jahren hier und hat noch nie jemandem was getan.« Nach kurzem Zögern sagte sie: »Jedenfalls keinem Menschen.«
    »Und Tieren?«
    »Wir versuchen, dieses Verhalten zu unterbinden. Es gibt hier keine Tiere, weil sie so leicht zu Opfern werden. Aber wir sind hier auf dem Land, manchmal verschlägt es Tiere von den Nachbarhöfen hierher.« Die Frau ließ Dóra keine Gelegenheit, das Gespräch fortzusetzen. »Bitte setz dich schon mal, ich hole Jósteinn.« Er ist schon ziemlich aufgeregt.
    Die Frau verschwand, und Dóra überlegte, welcher Platz am sichersten wäre. Sie wollte auf keinen Fall, dass sich der Mann neben sie setzte. Ein verschlissener Sessel, der etwas abseits stand, schien die beste Wahl sein, und Dóra legte ihre Aktentasche auf den Couchtisch davor. Sie wollte lieber stehen, wenn der Mann ins Zimmer kam; sie hatte mal gelesen, wie wichtig das bei der ersten Begegnung mit einem Fremden war, wenn man vermeiden wollte, dass dieser im Gespräch die Oberhand bekam. Wer saß, blickte automatisch zu dem anderen auf, was der Theorie nach das Kräfteverhältnis festlegte.
    Jósteinn kam mit der Krankenschwester ins Zimmer, die ihn vorstellte und wiederholte, sie befände sich in Rufweite. Dóra hatte den Eindruck, dass sich bei diesen Worten ein Grinsen über Jósteinns Gesicht zog, obwohl die Krankenschwester einen Ton angeschlagen hatte, als würde sie ihnen einen Kaffee anbieten. So viel zu dem ausgeglichenen Kräfteverhältnis. Dóra riss sich zusammen und bot Jósteinn einen Platz an. Der Mann setzte sich mit spöttischem Gesichtsausdruck und ohne sie anzuschauen auf das Sofa gegenüber. Er war schlank, und obwohl er weite, schlabberige Kleidung trug, meinte Dóra, an seinem sehnigen Hals und seinen muskulösen Händen zu erkennen, dass er stark war. Seine Haare waren dunkel und glatt zurückgegelt. Es sah aus, als sei er gerade aus dem Schwimmbad gestiegen. An einer Stelle war das durchsichtige Zeug an seiner Wange heruntergelaufen und hatte einen glänzenden Streifen in seinem knochigen, etwas hinterlistigen Gesicht hinterlassen. Jósteinn hatte Dóra immer noch nicht angeschaut.
    »Fühlst du dich wohl?« Trotz der höflichen Frage klang sein Tonfall eher so, als wolle er sich über Dóra lustig machen. »Ich habe selten Gäste, deshalb ist es mir sehr wichtig, dass du dich wohl fühlst. Wir hätten uns
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