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Feueratem

Feueratem

Titel: Feueratem
Autoren: Tanja Kinkel
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Drachen wären wir alle wahrscheinlich tot“, sagte ihr Vater ernst.
    Teres öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es fiel ihr schwer, die Bemerkung hinunterzuschlucken, dass sie noch nie gesehen hatte, wie der Drache auch nur ein einziges Wild mit ihnen teilte, das er an den Hängen des Berges riss. Was der Clan aß, wurde entweder von ihnen selbst angebaut, erjagt oder kam an den Flussmarkttagen von außerhalb.
    „Wären wir das?“, fragte sie mit gepresster Stimme, leise, um nicht der Versuchung nachzugeben, zu schreien. Wenn sie schrie, dann würde sie gewiss in den Turm geschickt, das wusste sie.
    „Jeder einzelne der großen Clans von Erised“, sagte ihre Mutter, „verfügt über einen besonderen Zauber. Ein Zauber, der allen anderen Clans fehlt. Unser Zauber ist der mächtigste von allen – das Bündnis mit dem Drachen.“
    „Jeder einzelne der großen Clans, die noch übrig sind“, fügte ihr Vater hinzu. „Vor dem großen Krieg hat es viele Familien gegeben, die keinen Zauber hatten. So heißt es jedenfalls. Die Ältesten schwören, dass es so war. Beweisen kann es keiner.“
    „Warum nicht?“, platzte es aus Teres heraus.
    „Weil jeder Clan, der keinen Zauber sein Eigen nannte, tot ist.“ Die Stimme ihres Vaters hatte alle Milde verloren. „Manche sind an einem einzigen Tag vernichtet worden; andere sind langsam und qualvoll ausgestorben.“
    Teres wurde kalt. Der große Krieg war etwas, von dem alle nur hinter vorgehaltener Hand sprachen. Eine Unglückszeit, die lange, lange zurücklag, so lange, dass niemand mehr am Leben war, der sich daran erinnern konnte. In ihrer frühen Kindheit hatte es noch ein paar alte Tanten gegeben, die angeblich damals jung gewesen waren, aber ihr Geist verwirrte sich mit jedem Jahr mehr, und sie konnten kaum noch sagen, was sie zu Mittag gegessen hatten, geschweige denn, was in der Zeit der Schrecken geschehen war.
    „Aber der Krieg ist doch schon lange vorbei“, sagte Teres, nicht gewillt, sich von alten Geschichten ins Bockshorn jagen zu lassen. Sie lebte hier und jetzt. „Nun haben wir Frieden.“
    „Wir haben einen langen Waffenstillstand“, entgegnete ihr Vater. „Weil wir den Drachen haben. Den Drachen, den du nicht zu würdigen weißt, du törichtes Kind. Er wird auch an deinem Geburtstag von dir mit Hochachtung und Respekt versorgt werden, sonst wirst du die Flussmärkte erst kennenlernen, wenn du verheiratet bist, ist das klar?“
    Es war klar. Und so, wie sie als kleines Mädchen das Kneifen in die Wange gehasst hatte, so war es nun dieser Teil ihrer Zukunft, der unausweichlich auf sie zukam. Ihre Eltern hatten Anis und Teres’ ältere Brüder sehr früh verheiratet, und Teres wusste, dass auf sie genau das gleiche Schicksal wartete. Noch war nicht bestimmt worden, welchem ihrer Vetter sie eines Tages bei der großen Zeremonie die Hand reichen sollte, doch es war keiner dabei, für den sie freien Herzens etwas anderes als eine Ohrfeige übrighätte. Ein ganzes Leben nur auf dem Berg, umgeben von den gleichen Menschen, und immer dem Drachen dienend … Plötzlich fragte sie sich, was der Drache tun würde, wenn sie statt des ewigen „wir kommen, um zu dienen“ sagen würde: „Ich komme, um dich zu verfluchen und niemals zurückzukehren.“ Aber wenn die Eltern recht hatten und nur der Drache verhinderte, dass es wieder Krieg gab, dann wäre dies nicht nur undenkbar, sondern unverzeihlich.
    Sie war also bereit, mürrisch ihre Pflicht zu tun, als Vetter Guso, der Anis geheiratet hatte, erklärte, dass er lieber in der Nähe seiner Frau bleiben wollte, falls das Kind zur Welt kam. „Wenn du erlaubst, Oheim, dann übernehme ich Teres’ Dienst an ihrem Geburtstag.“
    Sie wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen.
    ***
    Ihr älterer Bruder Ervel und seine Frau Turini, die Teres seit der Hochzeit Schwester nennen sollte, aber immer noch heimlich Tante nannte, waren es, die mit ihr an ihrem Geburtstagsmorgen zum Flussmarkt gingen. Teres war so glücklich und aufgeregt, dass sie auf dem ganzen Weg den Berg hinunter immer wieder begann, zu hüpfen wie ein Kind, und sich nichts daraus machte, ab und zu hinzufallen. Als sie die Steinlinie erreichten, gab sie sich betont unbeeindruckt. Es schien ihr, als würden Ervel und Turini sich zulächeln, als sie die Grenze passierten; ob sie die gleiche Mischung aus Freude und Erleichterung, aber auch ein wenig Mulmigkeit verspürt hatten, als sie den Berg und das Clangebiet zum ersten Mal verließen?
    Je
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