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Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen
Autoren: Gerd Heidenreich
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taumelte zur Tür und tastete sich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, wo de la Chambre mit dem Gesicht auf dem Tisch lag und schlief. Martina ließ sich aus dem Sessel auf den Boden gleiten, kroch zur Außentür, richtete sich an ihr auf und hob den Fallhaken. Die Tür gab nach: Offene Nacht. Sie tastete sich auf die Stiege hinaus. Die Holzstufen lagen voller Blätter und waren schmierig, aber sie kannte die Treppe noch wie im Schlaf, setzte sich, rutschte von Stufe zu Stufe hinunter. Sie erreichte den Kiesgrund neben dem Haus. Sie wusste, wo der Steg war. Wo das Boot lag. Sie stellte sich auf, hielt sich kurz am Geländer fest, lief los, schwankend erst, dann langsam geradeaus. Gottfreunds Kahn glänzte durch das Schilf. Er stand bis oben voll Wasser. Sie zog ihre Schuhe aus und warf sie fort. Hinter ihr Schreie. Sie drehte sich um und sah Lichtkegel durchs Dunkel wischen. Sie duckte sich ins Schilf. Als ihr Bauch unter die Wasserlinie geriet, schnürte die Kälte des Flusses sie ein. Sie wollte sich unterm Steg verstecken. Die Lichter kamen näher und bewegten sich schneller. Hier konnte sie nicht bleiben. Sie lief über das Ende des Stegs hinaus in die glitzernde Strömung, ließ sich mitnehmen. Treiben. Erst draußen im Fluss wagte sie, sich zu bewegen. Die Kälte des Wassers tat weh. Wie sie und Johanna es als Mädchen getan hatten, schwamm sie mit der Strömung schräg durch den Fluss zum anderen Ufer, die Pflasterstreifen lösten sich und trieben mit den giftgetränkten Mullkompressen und dem Venenkatheter davon. Im Mondlicht sah sie die Veranda des Restaurants Da Ponte. Dreihundert Meter weiter fielen die Stufen von der Terrasse ihres Hotels zum Fluss ab. Sie zwang sich, weiterzuschwimmen bis zu der Treppe, an der damals, als sie ein Kind war, Boote verliehen wurden. Sie zog sich aus dem Wasser, kroch die Stufen hinauf, unter der Absperrung hindurch, über die Terrasse, und kam vor der geschlossenen Glastür des Hotelrestaurants auf die Knie. Die Kälte schüttelte ihren Körper. In dem dunklen Saal leuchtete über einem Tisch eine Lampe. Im Licht sah sie ihre Mutter, Glas und Flasche vor sich, mit offenen Augen, den stieren Blick aufs eigene Leben gerichtet. Martina schlug mit der Faust gegen die Tür. Wieder und wieder. Endlich reagierte Ilse und drehte langsam den Kopf zu dem Geräusch hin. Martina schlug weiter. Ilse stand auf, torkelte, fing sich, kam endlich zur Tür, legte das Gesicht ans Glas und starrte über die Tochter hinweg in die Nacht.
    »Es ist spät, Liesel, ich weiß. Alexander ist hier.« »Solange ich ans Telefon gehe, ist es nicht zu spät. Vorhin hat Ehrlicher mir erzählt, dass ihr gestern sein ganzes Baulager durchsucht habt. Irgendwas wegen der Galerie. Was ist los bei euch?« »Hier ist die Hölle los«, sagte Swoboda. »Einbruch, Vandalismus. Und Martina ist nicht da. Weißt du, wo sie ist?« Liesel Ungureith lachte. »Also hör mal! Wenn du das nicht weißt, wer – habt ihr euch gestritten? Hat das junge Paar die erste Krise? Ich kann dir nicht helfen, ich habe darin keinerlei Erfahrung. Fleisch ist für mich nur zum Essen da.« Er kannte den Sarkasmus, den sie sich angewöhnt hatte, um ihr Leben anzunehmen, das aus Arbeit, Arbeit, Arbeit bestand. Für Liebe war darin keine Zeit. Nach zwei verletzenden Enttäuschungen hatte sie keine Lust mehr, sich auf andere als geschäftliche Beziehungen einzulassen, und lebte in der Villa, die ihre Eltern an der Mühr neben der Fleischfabrik gebaut hatten, ihr einsames, unternehmerisch erfolgreiches Leben – ohne zu bedauern, dass ihre Mädchen-träume von Familie und Kindern schon lange verblichen waren. Gelegentlich halfen ihr Serotonintabletten durch Phasen leichter Unzufriedenheit. »Nein«, sagte Swoboda, »für Streit bin ich zu alt, ich habe eigentlich schon alles falsch gemacht, was geht, und bin jetzt fürchterlich ruhig geworden. Entschuldige die späte Störung. Gute Nacht, Liesel.« »Warte! Seit wann hältst du mich für blöd? Du rufst doch nicht mitten in der Nacht an, nur um zu fragen, wo Martina ist, wenn du dir nicht Sorgen um sie machst. Also was ist los?« »Nicht am Telefon. Zu kompliziert.« »Willst du herkommen?« »Nein, nein, mitten in der Nacht, es hat keinen Sinn, du erfährst es ja doch. Ich glaube, sie ist entführt worden. Wir wissen nicht warum, nicht von wem, nicht, wo sie sein könnte.« »Du hast Angst.« »Ja.« »Komm her. Sofort.« Sie legte auf.
    Salviati und de la Chambre standen auf dem Bootssteg,
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