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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte
Autoren: Gaetano Cappelli
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musste sie als die große Künstlerin, die sie war, etwas geahnt haben, denn sie begann mit Der verklärte auferstandene Christus . Was mich anbelangte, so würde dies eines der vielen unvollendeten Werke bleiben, mit denen die Geschichte der Kunst gespickt ist.
    Außer Gemma ließ ich in New York auch den Frühling zurück, und als ich am Jean-Lesage International Airport landete, spürte ich eine Eiseskälte am Kopf - um die triste Zeit endgültig hinter mir zu
lassen, hatte ich mir die Haare so kurz scheren lassen, wie ich sie als kleiner Junge getragen hatte, und als ich mich im Spiegel betrachtete, hatte ich mich gewundert, wie wenig sich mein Gesichtsausdruck seit damals verändert hatte. Im Übrigen wälzte ich mich im Bett meines Hotelzimmers hin und her. Nach dem Überschwang der letzten Tage lasteten düstere Gedanken auf meinem Herzen. Wie würde mich Cybill empfangen, so viele Monate nach meinem Verschwinden? Und wenn sie einen anderen gefunden hatte? Einen mystischen Milliardär vielleicht? Es raubte mir wirklich den Schlaf. Am Morgen nach der schlaflosen Nacht mietete ich, sobald es möglich war, ein Auto und brach in Richtung Chakawaka Rise auf. Ich entschied mich für einen Cadillac. Endlich durfte ich einen fahren, und was war das für ein toller Schlitten! Bequem, gut gefedert, geräumig. Pit hatte wirklich recht gehabt. Von wegen Mercedes! Ein paar Meilen hinter Quebec fühlte ich mich schon wie ein legendärer Pionier, der auf einer Schneepiste verschütt geht. Die Straße war leer - man sah nur ellenlange rote Lastwagen, beladen mit Baumstämmen -, und obwohl der Straßenbelag vereist war, trat ich in meiner Ungeduld das Gaspedal durch. Vielleicht übertrieb ich es, oder vielleicht war Onkel Richard in Sachen Cadillac doch gewiefter, jedenfalls quoll irgendwann eine dichte Rauchwolke aus dem Motorraum. Ich schaffte es gerade noch auszusteigen, als in all dem Rauch plötzlich hohe Flammen aufzüngelten. Der nun folgende Knall veranlasste einen Brummifahrer abzubremsen.
    Als ich am Abend wieder vom Truck herunterkletterte, ging ich in ein Motel, das an ein kleines Fort der Rotröcke erinnert hätte, wären da nicht das pastellfarbene Neonlicht und die Unmenge von Indianern gewesen - Inuit, um genau zu sein. Ich gab dem Autovermieter über die Panne Bescheid und unterhielt mich nach dem - auf der Grundlage von Karibufleisch und Kohl zubereiteten - Essen mit dem Geschäftsführer, der ebenfalls ein Inuit war. Er war fett wie ein Walross, und seine asiatischen Gesichtszüge sprachen eine klare Sprache: Lange vor Kolumbus hatten bereits die Chinesen Amerika entdeckt. Nicht ganz so klar war sein Englisch,
in dem er mir immerhin begreiflich machen konnte, dass ich ungefähr dreißig Meilen über Chakawaka Rise hinausgefahren war und, um dorthin zu gelangen, einen Motorschlitten mieten müsste. Am nächsten Morgen fragte ich ihn, ob mir ein Inuit als Führer und Chauffeur dienen und mir einen Schlitten vermieten könne, aber er behauptete lachend, dass das Lenken ein Klacks sei und auch ein Kind nach Chakawaka Rise finden würde. Dann zeigte er mir die Route auf einer kleinen Karte.
    Natürlich verirrte ich mich. Ich weiß nicht, von wo an ich in die falsche Richtung fuhr, aber welche Anhaltspunkte kann es in einem total verschneiten Wald schon geben? Betäubt vom Lärm des Motorschlittens, irrte ich verzweifelt zwischen den dichten Bäumen hindurch, bis zwei Dinge passierten, vor denen ich mich am meisten gefürchtet hatte: Das Benzin war alle, und um mich herum herrschte Nacht. Ich rollte den Schlafsack, mit dem das Höllengefährt zum Glück ausgestattet war, unter einer großen Tanne aus und schlüpfte hinein. Nur der Wind rauschte und wehte mir einen durchdringenden Harzduft zu, außerdem das, was mir wie eine diffuse geheimnisvolle Musik vorkam, die ich schließlich als Geschrei eines vorüberziehenden Vogelschwarms identifizierte. Für einen kurzen Augenblick stieß der Mond durch die Himmelsdecke und ließ die großen Eiszapfen erglänzen, die von den Zweigen herabhingen: Hier muss der Weihnachtsbaum seinen Ursprung haben, dachte ich. Es war mein letzter Gedanke, bevor ich in einen traumlosen Schlaf versank, aus dem ich, wie ich befürchtete, nicht mehr aufwachen würde. Doch die Sonne war noch nicht aufgegangen - und würde im Übrigen auch nicht aufgehen -, als ich die Augen wieder öffnete. Die Monate, die ich auf der Straße verbracht hatte, hatten mich offensichtlich abgehärtet. Nachdem ich
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