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Fern wie Sommerwind

Fern wie Sommerwind

Titel: Fern wie Sommerwind
Autoren: Patrycja Spychalski
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Erleichterung, nicht mehr mit allem allein zu sein, fallen mir wieder die Augen zu. Beschützt von Martin, dem Jungen, der weiß, was zu tun ist, mit den unbeschreiblichen Grübchen.
    Ich kann nicht mehr sagen, wie lange wir so dasaßen. Wir haben nicht auf die Uhr gesehen, und ich habe jegliches Gefühl für die Zeit verloren, aber draußen dämmert es schon.
    »Wir können sie nicht länger hier liegen lassen«, flüstert Martin.
    »Müssen wir jetzt den Krankenwagen rufen? Oder die Polizei? Hätte ich das gestern schon machen müssen? Ich wollte das eigentlich machen, aber dann …« Ich werde wieder panisch.
    »Wir rufen den Krankenwagen. Die werden schon wissen, was zu tun ist.« Martin geht zum Telefon und wählt die Nummer der Feuerwehr.
    »Sie kommen aus dem Nachbardorf«, erklärt er, als er zurückkommt.
    »Wir sollten was essen«, schlage ich vor. Was anderes fällt mir nicht ein.
    »Ich gehe zu Max und melde uns für heute krank.« Martin denkt praktisch, ich hatte das schon völlig vergessen.
    »Er wird fluchen, dass wir noch nicht da sind.«
    »Er kann mich mal!«, entgegnet er.
    Als er weg ist, mache ich mich in der Küche zu schaffen. Ich nehme den Teller vom Tisch und wärme das Essen in der Mikrowelle auf. Kartoffeln, Erbsen und Schnitzel. Dann fange ich an, den Herd zu schrubben, die Arbeitsplatte abzuwischen und das trockene Geschirr in den Schrank zu räumen. In der Kammer stehen, fein säuberlich aufgereiht, die ganzen Marmeladengläser, die ich mit Irmi eingekocht habe.
    Was wird jetzt damit passieren? Was wird mit den ganzen Sachen hier passieren? Irmi hat nie von Verwandten gesprochen oder von Freunden. Hat nicht jeder eine Familie? Rückblickend kann ich mich auch nicht daran erinnern, Irmi telefonieren gesehen zu haben oder dass sie Besuch hatte. Nur einmal, da hat sie über den Zaun mit der Nachbarin gesprochen. Geplänkel. Wetter und Gemüsepreise. Sollte ich zur Nachbarin rübergehen und ihr Bescheid geben? Macht man das so? Oder muss der Arzt das erst offiziell machen? Oder was? Vom echten Leben hab ich einfach mal keine Ahnung.
    Martin kommt wieder. »Alles klar, wir sind nicht gefeuert. Aber nur weil fast Saisonende ist.«
    »Iss was«, fordere ich ihn auf und schiebe ihm was von den Kartoffeln und den Erbsen auf einen Teller. »Tofu oder so gibt es hier nicht.«
    »Ich habe keinen großen Hunger.« Er schiebt die Erbsen mit der Gabel von einem Tellerrand zum anderen. »Wir sollten zum Pfarrer gehen«, murmelt er vor sich hin.
    »Zum Pfarrer?« Ich setze mich ihm gegenüber und schneide das Schnitzel in kleine Stücke.
    »Irmi ist bestimmt zur Kirche gegangen. Wie alle hier. Vielleicht kann er uns etwas über Verwandte sagen.«
    Ich denke darüber nach. »Ich habe noch nie mit einem Pfarrer gesprochen.« Es gibt einfach Dinge, die spielen in meinem Leben keine Rolle. Pfarrer beispielsweise. Wie redet man überhaupt mit denen? Wie spricht man die an? Sagt man etwa Herr Pfarrer?
    Draußen vor dem Fenster sehen wir den Krankenwagen vorfahren. Ich stehe hektisch auf, laufe den Sanitätern entgegen und öffne ihnen die Tür. Sie murmeln etwas, was vielleicht eine Beileidsbekundung sein soll, vielleicht aber auch nicht. Ich nicke nur und führe die beiden Männer in das Zimmer.
    »Die Frau Mertens. Tatsächlich«, sagt der eine, bekreuzigt sich und geht wieder raus, um die Liege zu holen. Ich werde gar nicht weiter beachtet.
    Als er wieder zurückkommt, machen die beiden sich etwas umständlich dran, Irmis Körper vom Sofa auf die Liege zu hieven. Ich stehe nutzlos daneben. Martin ist im Türrahmen stehen geblieben.
    »Was passiert jetzt mit ihr?«, traue ich mich schließlich zu fragen.
    »Wie bringen sie ins Krankenhaus, dort muss der Arzt sie untersuchen, um dann den Totenschein auszustellen«, antwortet der eine Sanitäter sachlich. »Sind sie die Enkelin?«
    »Nein.«
    »Sonst irgendwie verwandt?«
    »Nein.«
    »Dann können sie auch nicht mitkommen. Ist Vorschrift.« Sie schieben Irmi durch das Wohnzimmer. Ich werfe noch einen letzten Blick auf ihr Gesicht. Es ist nicht abgedeckt, wie man das aus Filmen kennt. Ich habe das starke Bedürfnis, Irmis Gesicht noch einmal zu streicheln, traue mich aber nicht. Bestimmt gibt es da auch wieder Vorschriften. Ich schaue den Männern durch das Fenster hinterher, wie sie die Liege in den Wagen schieben, und muss mich sehr zusammenreißen, nicht wieder loszuheulen. Die Wagentüren werden zugeknallt. Dann bleiben die zwei noch vor dem Auto stehen
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