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Ferien mit Oma

Ferien mit Oma

Titel: Ferien mit Oma
Autoren: Ilse Kleberger
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schob ihm eine Tasse Tee und eine Schale mit Keksen hin, nahm ihm das Kind aus dem Arm und trug es in sein Bettchen. Dann setzte sie sich wieder an den Tisch und sagte: „So, nun erzählen Sie mal, warum Sie bei uns einbrechen wollten.“
    Es war eine traurige Geschichte, die sie zu hören bekamen. Der Einbrecher hieß Mario Müller. Er war ein Zirkuskind und hatte schon mit sechs Jahren auf dem Drahtseil gestanden. Seine Eltern waren berühmte Drahtseilartisten und arbeiteten hoch oben unter dem Zeltdach ohne Netz. Als Mario zehn Jahre alt war, verfehlte seine Mutter eines Abends eine Schaukel und stürzte in die Tiefe. Ihr Mann, der sie noch halten wollte, wurde mit hinabgerissen. Die Mutter starb. Der Vater erlitt so schwere Verletzungen, daß er nicht mehr auftreten konnte. Nun sollte Mario seine Stelle einnehmen, aber nach dem schrecklichen Erlebnis hatte er Angst auf dem Seil. Er ging zu einem Zauberer in die Lehre und arbeitete schließlich beim Zirkus als Zauberkünstler.
    Nachdem zehn Jahre später auch sein Vater gestorben war, machte er sich selbständig und tat sich mit Marietta, einer jungen Kunstreiterin, zusammen. Sie heirateten, kauften sich ein Pferd und einen grünen Wohnwagen und zogen damit über Land. Ihre Kollegen lachten sie aus und sagten: „Die Leute wollen lieber einen großen Zirkus sehen oder ins Kino gehen.“ Aber sie irrten sich. Mario und Marietta waren bald beliebt und bekannt. Im Sommer traten sie auf Schulhöfen und Dorfplätzen auf. Marietta führte akrobatische Kunststücke auf dem Pferderücken vor, und Mario zauberte den Leuten ihre Uhren aus der Tasche und wieder hinein, holte aus einem leeren Zylinderhut Blumen, Tücher oder ein lebendes Kaninchen. Im Winter trat Mario in Gemeinde- und Dorfgasthäusern auf, und Marietta reichte ihm Gegenstände zu, ließ sich von ihm verzaubern oder sogar in der Mitte durchsägen. Sie waren bei den Dorfleuten sehr beliebt. Was sie zum Leben brauchten, verdienten sie, und wenn der Verdienst nicht so war wie erwartet, sie sich ein paar Tage lang keine richtige Mahlzeit leisten konnten oder am Wagen etwas entzweiging, nahmen sie es nicht tragisch. „Morgen wird’s wieder besser“, sagte dann die hübsche Marietta und lachte. Nur manchmal gab es Schwierigkeiten. Marietta putzte sich gern und verlor ihre gute Laune, wenn Mario ihr nicht jedes halbe Jahr ein neues Kostüm für ihre Kunstritte kaufen konnte. Auch wenn ihr in einem Schaufenster ein Hut oder ein Kleid gut gefiel und Mario nicht genug Geld dafür hatte, wurde sie zornig.
    Eines Tages trafen sie wieder mit ihrem alten Zirkus zusammen. Die Freude des Wiedersehens war groß. Dem Direktor fehlte eine Schulreiterin. Er versprach Marietta kostbare Kostüme, womit sie das Publikum bezaubern könnte, wenn sie wieder beim Zirkus bliebe. Für Mario war allerdings kein Platz; einen Zauberkünstler hatten sie schon. Marietta konnte schließlich nicht widerstehen. Sie blieb beim Zirkus und ließ ihren Mann allein weiterziehen. Er war traurig und so zornig, daß er all ihre Briefe ungeöffnet an sie zurückgehen ließ. Er zog von nun an allein auf die Dörfer und zauberte, aber es wollte ihm nicht mehr so recht gelingen. Ihm fehlte seine Assistentin, und er hatte seinen Humor verloren. Manchmal kam es sogar vor, daß ihm ein Trick mißlang und er ausgelacht wurde. Es ging immer mehr bergab mit ihm, und er hatte Mühe, sich und das Pferd zu ernähren. Jetzt hatte er seit acht Tagen so wenig verdient, daß es nur gerade zum Heu für das Pferd reichte. Der Hunger hatte ihn dazu getrieben, sich an Pieselangs Haus zu schleichen und durchs offene Fenster einzusteigen. Tatsächlich hatte er auch gerade die Küche erwischt und wäre wohl zu seinem Ziel gekommen, wenn Jan nicht so indianerscharfe Ohren gehabt hätte.
    „Sie haben gehungert, um dem Pferd Heu kaufen zu können?“ fragte Jan. Der Einbrecher erschien ihm immer mehr als ein Held.
    „Nun“, sagte Oma, „Hunger ist immer noch kein Grund zum Einbrechen. Sie haben Jan und mich erschreckt. Sie hätten etwas zerbrechen oder fortnehmen können, was wir morgen dringend brauchen, zum Beispiel die Milch für das Baby. Glauben Sie nicht, daß es besser gewesen wäre, wenn Sie am Tag um etwas zu essen gebeten hätten?“
    „Ich bin doch kein Bettler!“ murrte der Mann.
    Oma schüttelte mißbilligend den Kopf. „Ist ein Einbrecher etwa besser als ein Bettler?“
    Der Mann sah sie unsicher an. „Ich glaube, ich werde mich jetzt zurückziehen“,
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