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Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)

Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)

Titel: Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
Autoren: Melanie Welsh
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sie bereits getan hatte. Er zog das Holzpüppchen aus der Tasche, es sollte mit ansehen, was jetzt geschah.
    »Sie haben Abigail umgebracht«, sagte er. »Sie haben meine Schwester ermordet. Sie haben mich nicht gerettet, sondern mich zu sich genommen, weil ich nützlich war – aber meine Schwester war nutzlos für Sie, darum musste sie sterben.«
    Die Herrin war ausnahmsweise verblüfft. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Ich –«, begann sie.
    »Sie haben eine Urgeschichte daraus gemacht, die immer und immer wieder Wirklichkeit wurde. So stand es geschrieben – in dem Buch, das von Ihnen erzählt.«
    Die Herrin starrte Abednego ungläubig an: Dieser Mann war all die Jahre ihr treuer Diener gewesen und schlug jetzt zurück. »Wo hast du das Buch gefunden?«, fauchte sie. »Wie bist du darangekommen?«
    Abednego antwortete nicht, sondern fuhr unbeirrt fort: »Sie dürfen dieses Kind nicht nehmen, jetzt ist Schluss mit dem Morden. Sie werden keine Kinder mehr stehlen und töten.« Eine einzelne Träne rollte über seine Wange.
    Die Herrin wurde immer zorniger. Sie war es nicht gewöhnt, dass ihre Leute ihr den Gehorsam verweigerten, sie duldete es nicht. »Ich will wissen, woher du das Buch hast«, sagte sie. »Wer hat dir davon erzählt?«
    Der dunkelhäutige Riese sah sie schweigend an.
    Die Herrin raste vor Wut. »Wer hat dir davon erzählt?«, zischte sie. Ein eisiger Windstoß fuhr auf ihn los wie eine Giftschlange. »Ich bin immer noch deine Herrin, mein Junge.« Sie beugte sich drohend vor, aber Abednego zuckte nicht mit der Wimper.
    »Ich schulde Ihnen keinen Gehorsam mehr«, sagte er. »Wir sind geschiedene Leute.« Und als wollte er ihr das noch einmal vor Augen führen, trat er an eine Deckkiste und hob den Deckel: Zum Vorschein kam ein Mann in perfekt gebügelter blauer Uniform mit blank polierten Messingknöpfen, der verdattert ins Licht blinzelte.
    »Mr Cutgrass«, stammelte Felicity. Henry blieb der Mund offen stehen.
    Jasper stieg aus seinem Versteck. An einem Riemen trug er einen Kasten mit einer Segeltuchhülle. Er starrte die Versammlung an. Sein Plan, als blinder Passagier auf der Sturmwolke mitzureisen, war gescheitert, das stand außer Frage. Man soll sich eben nicht mit Leuten wie Abednego einlassen, die einem mitten in der Nacht ins Haus schneien, dachte er resigniert – man weiß nie, was sie als Nächstes tun werden.
    »Einer von der Küstenwache?«, schrie die Herrin. »Ein Zollbeamter!« Sie konnte und wollte sich nicht länger verstellen, es war Zeit, zu ihrer wahren Natur zurückzukehren.
    Mit einem Wutschnauben, das nach Verwesung roch, ließ sie ihrer Verwandlung freien Lauf. Ein Feuerstrahl zerriss die Luft, und anstelle der alten Dame stand plötzlich eine Gestalt da, die kaum mehr menschlich aussah. Sie trug einen weiten Umhang mit einer Kapuze und hielt den Kopf tief gesenkt. Starr vor Schrecken sahen die Umstehenden zu, wie das Wesen aufblickte und sich in seiner ganzen Scheußlichkeit zu erkennen gab.
    Alles weiche Gewebe war aus dem Gesicht verschwunden, nur schwärzlich verdorrte papierene Haut war noch da, durch die man deutlich die Strukturen des Schädels sehen konnte. An den Enden der Ärmel und am Halsausschnitt zeigten sich ähnlich mumifizierte Knochen. Das grauenhafte Geschöpf atmete heiser keuchend, ein schneidender Wind umwirbelte es.
    Felicity schnappte nach Luft. So hatte die Großmutter immer ausgesehen, wenn sie zornig war.



Zweiundzwanzigstes Kapitel
    A
lle wichen ein bisschen zurück – es war klar, dass diese Verwandlung nichts Gutes bedeuten konnte.
    »Ich habe genug von eurem Ungehorsam«, sagte die Gestalt. Ihre Stimme klang krächzend und hohl. »Es ist Zeit …« Felicity überlief es kalt.
    Die meisten Menschen empfanden blanken Horror, wenn sich die Herrin in ihrer natürlichen Gestalt zeigte. Nicht so Jasper Cutgrass – er war eher fasziniert: Tatsächlich, es stimmt, was Abednego gesagt hat, dachte er. Die Herrin der Sturmwolke existiert wirklich. Es ist erstaunlich!
    Henry war wie betäubt. Das Buch hatte recht. All die schrecklichen Verbrechen dieser Frau, dieses Ungeheuers, hatten ihre Seele absterben lassen, Stück für Stück.
    »Sie ist am Ende«, flüsterte Felicity ihm zu, »sie hat kaum noch Leben in sich.«
    Das Wesen lachte, ein schrill kreischendes Geräusch, das einem Gänsehaut machte. Felicity musterte die ausgezehrte Gestalt. Es war ihr rätselhaft, wie so ein Gesicht, das nur aus dürrer Haut und Knochen bestand,
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