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Feindesland

Feindesland

Titel: Feindesland
Autoren: Oliver Uschmann
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während Susanne am Tisch sitzt und von ihrem Teller Nudeln nur so wenig isst wie die magersüchtigen Mädchen, die wir damals auf den Rasthöfen beobachtet haben. Sie stochert herum und blickt finster in den Berg aus Spaghetti, so versunken, als müsse sie das Knäuel mit bloßer Gedankenkraft entknoten. »Ein spezieller Anwalt. Eine Strategie, die aufs große Ganze zielt. Eine Klage, die die ganze Legitimation dieser Regierung anzweifelt. Wenn wir im Einzelfall nicht gewinnen können, müssen wir ...«
    »Hartmut!« Susanne knallt ihre Gabel so laut auf den Tellerrand, dass er einen Sprung bekommt. Ich zucke zusammen. Hartmut bleibt stehen und sieht seine Frau mit einer Mischung aus Zorn und Hundeblick an. Er kämpft seit Tagen, zumindest in Gedanken und Recherchen, sie macht tagsüber ihren Job und fällt abends in die Depression. Sie sagt: »Unser Kind ist tot, und du machst dir Gedanken darüber, wie du die Regierung stürzen kannst? Du bist schon wieder wacker bei der Revolution, wie du es schon immer gewesen bist?«
    Hartmut japst und macht ruckartige, unkontrollierte Bewegungen, als habe er keine Ahnung, wie er auf diese Bemerkung reagieren soll. Er erwidert, in Sekundenschnelle Tränen in den Augen: »Ja, wir haben unser Kind verloren. Wegen denen. Wir können das doch nicht so einfach hinnehmen!«
    Susanne senkt den Kopf und stochert wieder in den Nudeln wie eine Autistin, die nur ganz kurz aus ihrer inneren Versenkung aufgetaucht ist.
    Hartmut wird wütend. Er läuft auf den Tisch zu, rammt flach beide Hände darauf, beugt sich zu ihr hinüber und sagt: »Verdammt! Willst du denn gar nicht kämpfen?«
    Susanne hebt ihren Kopf, als wöge er so viel wie ein Zementsack. Von unten sieht sie Hartmut in die Augen, das Kinn leicht vorgeschoben, langsam und unmissverständlich artikulierend: »Ich kämpfe, Hartmut. Ich kämpfe jeden Tag.«
    »Das Leben geht weiter.«
    So sagen es die Kalenderblatt-Texter. So sagt es der Volksmund. So sagen es unsere Eltern. Nein, Entschuldigung, das stimmt nicht. Die sagen — in einem stillen, behutsamen Tonfall, in dem man mit verwundeten Raubtieren spricht, damit sie einen nicht anfallen: »Schatz, irgendwie muss das Leben weitergehen.«
    Damit sind sie schon näher dran an der Wahrheit.
    Irgendwie muss es weitergehen, mit Betonung auf muss, weil der Freitod ja dämlich wäre und die Drogensucht auch und weil »Lisa es so gewollt hätte«, was das schmerzhafteste und unerträglichste Argument von allen ist, vor allem, weil es stimmt.
    Also versuchen wir, miteinander zu leben, wie wir es immer getan haben. Hartmut stellt seine Überlegungen, den Staat zu verklagen, ein, denn dieser sei nicht mehr reformierbar, sondern könne nur noch gestürzt werden, was nur weitere unschuldige Leben kosten würde. So schicken wir dem Staat lediglich Geld, bis unsere Firma abbezahlt und rein ist, und Frau Mützenmacher vom Büro für Grüne Gründung schickt uns inoffiziell einen Kondolenzbrief, in dem steht, wie sehr sie dieser Schicksalsschlag zerreißt und dass sie intern in Erfahrung bringen konnte, dass es den Beamten, die nur ihre Pflicht tun wollten, ebenso ergeht. Beide seien längst nicht nur aus dem Dienst entlassen worden, sondern mussten jetzt als Entsorgungskräfte mithelfen, alte Chemiefabriken im Osten zu demontieren, was eine Aufgabe sei, die auf baldigen gesundheitlichen Verfall hoffen ließe. Solche Dinge schreibt Frau Mützenmacher. Sie schreibt nicht, dass die Beamten uns gerne sehen und ihr Bedauern persönlich ausdrücken würden, denn das hat vor Wochen bereits das Ministerium getan, woraufhin Hartmut dort anrief und in unmissverständlichem Tonfall davon abriet, diese Leute auch nur auf zehn Kilometer an unsere Wohnung heranzulassen. Kämen sie, würde er sie töten, sagte er, und es klang so ruhig und so eindringlich, dass nicht nur der Beamte am Telefon, sondern auch wir alle im Wohnzimmer es sofort glaubten. Susanne verließ das Zimmer und schüttelte lautlos den Kopf. Ich folgte ihr in die Küche, wo sie sich alten Kaffee von der Warmhalteplatte eingoss, stellte mich neben sie an den Tisch und wartete, bis sie von selbst sprach.
    Sie sagte: »Er will mir ständig beweisen, wie zornig er ist. Er muss mir nichts beweisen.«
    Ich sagte: »Das dient nicht nur irgendeinem Beweis. Er ist zornig. Am liebsten würde er die ganze Welt mit Krieg überziehen.«
    »Eben«, sagte sie und trank in den kurzen, winzigen Schlückchen von Vögeln, die an der Schale picken. Dann fügte
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