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Feindesland

Feindesland

Titel: Feindesland
Autoren: Oliver Uschmann
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Abschied nicht verdient. Er ist nur symbolisch. Der echte Abschied wird Jahre dauern. Es ist gut, dass sie jetzt ein Diamant ist. Nach der Feier halten wir wieder die Hände unserer Frauen, aber wir spüren, wie wir uns alle gegenseitig Vorwürfe machen. Schreiende, wütende, verbissene Vorwürfe. Ohne ein Wort.
     
    *
     
    Mit Lisa, die nie wirklich leben durfte, ist auch unsere Zukunft verschwunden.
    Die Zeitlinie läuft zwar weiter wie eine Ladeleiste bei You-Tube, doch wir wollen nicht mehr sehen, wie unser Film zu Ende geht.
    In unserer Wohnung bewegen wir uns langsam und voller Ekel. Wir können nicht verdrängen, wer diese vier Wände letztlich bezahlt hat. Wer dafür gesorgt hat, dass MyTaxi entstehen konnte inklusive all der Angestellten, des großen Fuhrparks und des Wohntraktes mit Lisas Kinderzimmer. Es war die Regierung mit ihren Subventionen, die sie uns zukommen ließ, weil wir die Autos mit Erdgas betreiben, lösemittelfreie Farben verwenden und Taubstumme einstellen, die bloß gute Schauspieler sind. Dieselbe Regierung, die ein Gesetz erlassen hat, das besagt, alte Autos ohne Verzug von der Straße zu holen, was zwei junge Polizisten leider zu wörtlich nahmen und was Lisa das Leben kostete.
    In allem hier steckt das Ministerium. In den Autos, der Telefonanlage, dem Wasserkocher in der Küche. Aber eben auch in den vielen Angestellten, die auf uns bauen. Wir können ihnen nicht den Boden unter den Füßen wegziehen. Wir können uns selbst nicht den Boden wegziehen und einfach gar nichts tun, denn dann würde das schwarze Loch im Bauch wachsen und uns vollends aufsaugen, wie es ihm bereits in jeder schlaflosen Nacht gelingt.
    So kutschieren Susanne und ich schon zwei Wochen nach der Trauerfeier wieder Fahrgäste durch die Gegend, reichen Kaffee und Baguettes nach hinten und reden mit den Leuten je nach Wunsch über das Wetter, den Sport oder die Hochzeit eines Starlets. Nur Politik ist in unseren Taxen verboten. Spräche uns auch nur einer auf die Regierung und das Ministerium an, wir würden ihm schon beim geringsten Verdacht, er könne etwas Gutes über sie sagen, die Nase brechen. Hartmut und Caterina haben sich darum gekümmert, sämtliche Unterstützungen und finanziellen Vorteile, die uns das Ministerium gewährt, zu kündigen. Die Buchhaltung hat ausgerechnet, wie viel wir hätten investieren müssen, hätte uns die Politik nicht geholfen. Es ist eine stattliche Summe, aber wir beginnen, sie freiwillig abzuzahlen. Wenn wir diese Firma schon nicht über Nacht abschütteln können, wollen wir sie zumindest zu 100 % staatsfrei kriegen.
    Parallel dazu recherchiert unser Rechtsexperte Veith jeden Tag in seinen Hunderten von Ordnern und im Internet nach unseren Möglichkeiten, den Staat oder die beiden Polizisten, die uns von der Straße gedrängt haben, zu verklagen.
    Er findet keine.
    Seit Wochen tut er nichts anderes und hat die Kommandozentrale mit den Monitoren vorübergehend Samir übergeben, dem man nun vertrauen kann. So wie selbst das Wort des Russen Alexej zählt, der uns in Ruhe lässt, weil er autarke Entscheidungen treffen darf und nicht wie diese verfluchten Beamten bloß der verlängerte Arm von Gesetzen ist, die längst ihr Eigenleben entwickelt haben.
    Veith recherchiert und recherchiert und recherchiert, inhaliert Kaffee durch alle Körperöffnungen und führt stundenlange Telefonate, doch es bringt nichts. Das Ergebnis ist eindeutig: Sicher können wir den Staat wegen des Vorfalls verklagen, aber wir haben keine Chance. Wie man es dreht und wendet, wir haben keine Chance. Wir hätten bei der ersten Sichtung der Kelle anhalten müssen. Wir hätten das Auto, in dem wir fuhren, am 1. Juli abmelden und aus dem Verkehr ziehen müssen. Wir hätten - auch das ist ein Gesetz, das zwischenzeitlich verabschiedet wurde und das wir einfach übersehen haben - mindestens jeden zweiten Tag unserer Informationspflicht als Bürger nachgehen müssen. Niemand darf sich mehr zurückziehen und so tun, als habe er von nichts gewusst, sagt die Regierung. Sie stellt jedes ihrer Gesetze im Wortlaut ins Internet und informiert die Bevölkerung in Echtzeit über die neuen Regelungen; per Fernsehen, per Radio sowie per Newsletter über das Profil im BürgerVZ, und da jeder Bürger ein solches hat, darf sich niemand darauf berufen, ahnungslos gewesen zu sein. So sind die neuen Regeln. Es wurde an alles gedacht.
     
    »Es muss doch noch irgendeinen Weg geben«, sagt Hartmut und läuft im Wohnraum auf und ab,
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