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Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen
Autoren: Henriette Frädrich
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im Griff? Ist sie keine gute Mutter? Oder ist sonstwas in der Familie im Argen? Für meine Mutter musste das der Horror gewesen sein. Doch ich konnte und wollte keine Rücksicht darauf nehmen, dann auch das kam mir ziemlich schnell sinnlos vor. Dieser vorauseilende Gehorsam den Nachbarn gegenüber, diese Angepasstheit, diese Bravheit, diese Konformität, diese Langeweile. Und so blieb ich stur.
    Meine Mutter versuchte immer wieder, mich dazu zu animieren, mir in der Schule mehr Mühe zu geben. Mich weniger auffällig zu verhalten. Sie versuchte es auf die gängige Tour mit diesem „Junge, verbau´ dir doch nicht deine Zukunft!“-Gerede. Doch ich wusste es besser. Ich würde meine Zukunft genau dadurch verbauen, wenn ich mich einreihen würde in den Kanon der angepassten Langweiler. Ich weiß, meine Mutter meinte es nur gut mit mir. Sie wollte wirklich das Beste für mich. Aber aus ihrer Weltsicht heraus konnte sie nicht verstehen, dass das Beste für sie nicht das Beste für mich war. Ich beruhigte meine Mutter, indem ich ihr versicherte, sie müsse sich keine Sorgen machen, denn ich werde das Abitur schaffen. „Mama, ich will doch auch mein Abi machen, ich weiß selbst, ohne Abi komme ich nicht weiter. Und ich werde das auch schaffen, ganz problemlos. Aber erwarte bitte keinen Zweier- oder gar Einser-Schnitt. Denn auf die Plackerei habe ich keine Lust.“, erklärte ich ihr eines Abends feierlich. „Vertrau´ mir, okay?“ Sie seufzte, sie nickte, sie willigte ein. Und ließ mich seitdem machen, ohne sich je wieder einzumischen. Und das rechne ich ihr bis heute hoch an. Denn allein durch den Vertrauensvorschuss von ihr wurde mein Wunsch, das Abi zu schaffen, noch größer. Ich wollte ihr beweisen, dass ich Verantwortung übernehmen konnte. Und dass ich das, was ich sage, auch wirklich umsetze. Aber eben auf meine Art und Weise.
    So stürzte ich mich in die Abi-Vorbereitungen, ging das ganze aber mehr strategisch an. Ich rechnete mir aus, wie viele Punkte ich mindestens in den relevanten Prüfungen schaffen musste, um zu bestehen, und passte meinen Lernaufwand entsprechend an. Ich muss sagen, ich war sehr effizient. Ich lernte ein bisschen, aber nicht zu viel. Während meine Mitschüler unter den Bücherbergen ächzten und stöhnten, hatte ich sogar noch ein ganz nettes und entspanntes Freizeitleben. Manchmal merkte ich, dass meine Mutter nervös wurde, wenn ich die Nachmittage wieder nicht an meinem Schreibtisch saß, aber ich lachte sie dann nur an. „Vertrau mir, Muttchen!“.
    Tatsächlich schaffte ich mit meinem Minimal-Lern-Konzept die schriftlichen Prüfungen ohne große Probleme. Sie waren kein Zuckerschlecken, aber die ergatterten Punktzahlen reichten, dass ich das Abi bereits bestanden hatte. Jetzt stand nur noch die mündliche Prüfung an. In meinem Hass-Fach Mathematik. Ich wusste, ich konnte mir in dieser Prüfung alles erlauben, nur null Punkte dürften es nicht werden. Da ich keinerlei Anspruch hatte, meinen Abi-Schnitt noch weiter zu verbessern, sondern mit dem reinen Bestehen völlig zufrieden war, machte ich mir einen Spaß aus der Prüfung. Natürlich lernte ich nicht. Ich war mir sicher, mindestens einen einzigen Punkt zu holen, und der würde locker ausreichen.
    Am Abend vor der Prüfung saßen meine Mutter und ich lange in der Küche und wir redeten viel. Sie war stolz, dass ich mein Abi so gut wie in der Tasche hatte, und bat mich inständig, es in der mündlichen Prüfung bloß nicht doch noch auf den letzten Metern zu vermasseln. „Muttchen, keine Sorge! Ich mach das schon. Du hast doch gesehen, dass du dich auf mich verlassen kannst!“ beruhigte ich sie. „Ja, das stimmt. Und darauf bin ich sehr stolz!“ sagte sie. Dann sagte ich: „Und ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich hast machen lassen.“. Dann umarmten wir uns. „So, und darauf trinken wir einen!“ sagte meine Mutter und holte eine Flasche Whisky aus dem Schrank. Ungläubig starrte ich sie an. „Ist das dein Ernst? Whisky?“ „Aber ja!“, sagte sie kichernd und schenkte uns kräftig ein. Wir prosteten uns zu, kippten das Zeug runter, verzogen unser Gesicht, lachten. Dann schenkte meine Mutter nach. Der Abend wurde sehr lustig. Und sehr lang.
    Ich hatte noch nie so viel Spaß mit meiner Mutter, wie in dieser Nacht, die Nacht vor meinem mündlichen Mathe-Abitur, in der meine Mutter und ich zusammen eine ganze Flasche Whisky leerten. Völlig verkatert aber gut gelaunt schleppte ich mich am nächsten Morgen in meine
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