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Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen
Autoren: Henriette Frädrich
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„normal“ und damit „meine Mama“ werden würde. Ich hatte sogar richtig Probleme, sie in der Zeit „meine Mama“ zu nennen.
    Vermutlich ist das egoistisch. Als Tochter alles von der Mutter zu erwarten, und wenn diese mal in der Patsche steckt, nicht in der Lage zu sein, ihr zu helfen. In der Zeit, als es meiner Mutter so schlecht ging, wurde auch viel familieninterne schmutzige Wäsche gewaschen. Alle machten sich gegenseitig Vorwürfe, für was auch immer. Die Atmosphäre war vergiftet.
    Nach über einem Jahr hatet sich meine Mutter halbwegs gefangen. Dennoch hat die Geschichte bei uns allen tiefe Spuren der Verwüstung und Enttäuschung hinterlassen. In unserer vormals so innigen Beziehung sind tiefe Risse. Ich stelle plötzlich alles in Frage, ich hinterfrage alles. Das wäre mir früher nie in den Sinn gekommen. Und ich spüre nach wie vor einen großen Drang, mich von meiner Mutter zu distanzieren. Früher freute ich mich, wenn sie anrief und wir lange telefonierten. Heute bin ich schon genervt, wenn ich ihren Namen im blinkenden Handy-Display sehe.
    Hätte mir jemand vor zwei Jahren gesagt, ich würde meine Mutter eines Tages am liebsten auf den Mond schießen wollen, ich hätte ihn für verrückt erklärt. „Niemals!“, hätte ich entrüstet geantwortet.
    Dass die Dinge so gekommen sind, darüber bin ich wirklich traurig.

Whisky vorm Abitur
    Der Furchtlose
    Arno, 41, Arzt
     
    Ich hatte schon immer ein eigenwilliges Verhältnis zur Schule. Dabei war ich immer neugierig, ich wollte viel lernen und viel wissen. Aber ich wollte das selbstbestimmt tun. Ich wollte selbst bestimmen, was ich lerne und was nicht. Viele Fächer empfand ich als sinnlos. Und wenn ich etwas als sinnlos fand, dann sperrte ich mich dagegen. Ich spürte dann immer eine immense Wut in mir, gegen die ich nicht ankam. Eine regelrecht ohnmächtige Wut. Noch schlimmer wurde das ganze, wenn sich die Wut über das Sinnlose mit einer Wut auf die Verantwortlichen mischte. Denn auch mit Autoritätspersonen hatte ich meine Schwierigkeiten. Ich war ein richtiger Lehrerschreck. Es gab nur wenige Lehrer, die meinen Respekt hatten. Die meisten Lehrer empfand ich als schnarchnasig, dumm, ideenlos, bequem, schluffig, faul, uninspirierend. Wie sollte ich solche Leute als Autorität anerkennen? Ich wollte geführt, motiviert, gefördert und inspiriert werden. So hätte man mir durchaus auch Fächer näher bringen können, die ich für schwachsinnig hielt. Aber in meiner Provinzschule gab es Lehrplan nach Vorschrift. Und weder Schüler noch Lehrer eckten auf. Alle folgten brav dem Plan und den an sie gestellten Erwartungen. 
    Ich brachte nicht gerade berauschende Noten nach Hause. Es klingt arrogant, aber ich bin mir sicher, hätte ich mehr Lust gehabt, hätte ich auch wesentlich bessere Noten gehabt. Aber um die Noten ging es mir nie. Es war mir scheißegal. Ich wollte nur so schnell wie möglich irgendwie mein Abitur schaffen, damit ich danach endlich frei war, das zu tun, was ich wirklich wollte. Meine Zeit sinnvoll und selbstbestimmt nutzen.
    Genau darüber bekam ich mich mit meiner Mutter immer wieder in die Haare. Es war ihr peinlich, dass sie so einen renitenten Sohn hatte, der einfach nicht folgte. Schon im Kindergarten verweigerte ich mich komplett, wenn die Erzieherinnen im Stuhlkreis alberne Liedchen sangen und wir Kinder mitmachen mussten. Mir war das ein Graus, ich fand das so peinlich, wollte nicht singen, wollte nicht tanzen. Lieber kassierte ich einen Anschiss, und dass ich als Strafe in die Schmoll-Ecke aussortiert wurde, als dass ich beim Ringelpietz mitmachen musste. Meine Mutter musste sich dann am Nachmittag, wenn sie mich abholte, jeden Tag aufs Neue anhören, wie unfähig ich doch war, mich in die Gruppe zu integrieren, wie stur ich war und dass sie dringend daran mit mir arbeiten müsste. Sonst hätte ich es später mal sehr schwer im Leben. Meine Mutter schämte sich für mich. Wir lebten auf einem kleinen Dorf. Und da galt das, was die Nachbarn dachten, als Maxime. Und so waren alle Bürger stets bemüht, ja nicht aufzufallen, brav ihre Aufgaben und Verpflichtungen zu erledigen und freundlich und nett zu allen zu sein. Skandale (Ehekrisen, Suff, finanzielle Schwierigkeiten etc.) durften um Himmels Willen nicht nach außen dringen. Alles wurde unter den Teppich gekehrt. Deshalb war es besonders schlimm für meine Mutter, so einen renitenten Sohn zu haben. Denn was sollen die Nachbarn bloß denken? Hat sie ihren Sohn nicht
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