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Familienkonferenz in der Praxis

Familienkonferenz in der Praxis

Titel: Familienkonferenz in der Praxis
Autoren: Thomas Gordon
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darüber, dass sie gar nicht anders als inkonsequent sein können. In unseren Kursen fordern wir die Eltern zunächst auf, sich ein Rechteck oder ein Fenster vorzustellen ( Abb. 1 ). Darin sehen sie alle Verhaltensweisen ihres Kindes.

    Dann machen wir deutlich, dass das Rechteck jedes Elternteils zwei verschiedene Verhaltensweisen enthält ( Abb. 2 ): akzeptable und nicht akzeptable.

    Wenn die Mutter ausgeruht ist und einer interessanten und befriedigenden Tätigkeit nachgeht, wird sie wahrscheinlich akzeptieren, dass ihre dreijährige Tochter auf dem Klavier herumhämmert. Diese Handlung wäre aber wahrscheinlich nicht akzeptabel, wenn die Mutter müde wäre und schlafen wollte. Außerdem gibt es Tage, an denen der Toleranzbereich eines Elternteils sehr groß ist. Alles läuft wie geschmiert, und beinahe nichts kann ihn aus der Ruhe bringen. Das Rechteck hätte die Form wie Abbildung 3 .
    Abbildung 3
    Dann wieder mag der Vater aufgebracht sein oder Sorgen haben. Alles scheint schiefzugehen. Sein Rechteck sieht dann vielleicht so wie Abbildung 4 aus:
    Abbildung 4
    An solchen Tagen wird ihm fast alles, was sein Kind tut, nicht akzeptabel erscheinen. Solche Schwankungen der Trennungslinie (oder des »Toleranzniveaus«) sind häufig und für die meisten Eltern unvermeidlich. Es ist verständlich und normal, dass sie zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Verfassung sind.

    »Es gibt Momente, in denen habe ich das Gefühl, nutzlos und ein Versager zu sein. Mir ist klar, dass es daher kommt, dass ich müde und niedergeschlagen
bin. Aber ich habe dann einfach an allem etwas auszusetzen – nichts ist an seinem Platz, keiner kann es mir recht machen.«

    Wenn Eltern diese Veränderung des Rechtecks verstehen, erkennen sie damit die Tatsache an, dass sie schließlich auch nur Menschen und Stimmungsschwankungen unterworfen sind. Sie lernen es, mit dem Umstand zu leben, dass sie nicht immer die gleichen Gefühle ihren Kindern gegenüber hegen. Sie befreien sich von dem Schuldgefühl, das die Inkonsequenz ihres Verhaltens geschaffen hat.
    Es gibt noch zwei andere Faktoren, die die Einstellungen und Verhaltensweisen von Eltern Schwankungen aussetzen. Zum einen lässt es sich überhaupt nicht vermeiden, dass Eltern das eine Kind akzeptabler als das andere finden. Kinder besitzen nun einmal unterschiedliche Persönlichkeiten und Merkmale. Zum anderen erleben Eltern immer wieder, dass ihre Einstellung zu bestimmten Verhaltensweisen sich je nach der Umwelt ändert, in der jene gezeigt werden.
    Warum verhalten sich Eltern in ihrem Empfinden und Handeln inkonsequent gegenüber ihren Kindern, wenn sie mehrere Kinder haben? Weil nun einmal mit manchen Kindern leichter umzugehen ist als mit anderen. Und dies aus vielen Gründen. Stellen wir uns zum Beispiel vor, dass ein Kleinkind (Kind A) sehr aggressiv, äußerst mobil und extrem neugierig ist. Es steckt seine Nase in alles und stiftet jede nur erdenkliche Unruhe in der Familie. Das andere Kind in dieser Familie (Kind B) weist ganz andere Merkmale auf – es ist ruhig, sorgsam und umsichtig. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die typischen Verhaltensrechtecke der Eltern für diese beiden so gegensätzlichen Kinder unterschiedliche Formen aufweisen. Einige Kinder, die ich kennengelernt habe, übten so viel Charme und Anziehungskraft auf mich aus, dass ich in der Regel alles akzeptierte, was sie taten. Ich bin aber auch anderen Kindern begegnet, die aufgrund ihrer besonderen Charaktermerkmale Verhaltensweisen an den Tag legten, die ich einfach nicht akzeptieren konnte.
    Und wie verleitet die Umwelt Eltern zur Inkonsequenz? Nehmen wir als Beispiel ein lebhaftes Spiel. Draußen im Hof mag es der Vater
akzeptieren – oder ihm sogar mit Wohlwollen begegnen. Im Wohnzimmer wird er solch ein Verhalten nicht dulden ( Abb. 5 und 6).
    Abbildung 5
    Die Tischmanieren eines 14-jährigen Sohnes mögen zu Hause akzeptabel sein, in einem Restaurant aber nicht akzeptabel und peinlich.
    Alle Eltern werden von diesen drei Faktoren beeinflusst: ihrer Stimmung, dem Kind und der Umwelt. Ständig ertappen sie sich dabei, dass sie in Einstellung und Verhalten ihren Kindern gegenüber inkonsequent sind. Durch die Wechselwirkung der drei Faktoren ist die Trennungslinie zwischen dem Bereich der akzeptablen Verhaltensweisen und dem Bereich der nicht akzeptablen Verhaltensweisen ( Abb. 7 ) ständigen Schwankungen unterworfen.

    Da haben wir das Prinzip der Inkonsequenz. Ständig wird man sich dessen
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