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Falsche Väter - Kriminalroman

Falsche Väter - Kriminalroman

Titel: Falsche Väter - Kriminalroman
Autoren: Hermann-Josef Schüren
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leer. Tante Gertrud war nicht da. Der Berg mit Kartoffeln, den sie
täglich für sich und sämtliche Nachbarn bearbeitete, lag nahezu unberührt auf
dem Tisch. Van de Loo trat in den Flur zurück.
    »Tante Gertrud?«, rief er.
    Keine Antwort.
    »Trude?«
    Stille, die nichts Gutes verhieß.
    In letzter Zeit war Tante Gertrud manchmal ziemlich durcheinander.
Sie war ein paarmal mitten in der Nacht aufgestanden und ziellos durch die
Gegend geirrt. Als sie aufgegriffen worden war, behauptete sie, auf dem Weg in
die Schule oder den Kindergarten zu sein. Einmal hatte man sie an der Niers
gefunden, an einer Uferstelle, wo sie vor mehr als sechzig Jahren mit ihrer
Freundin ein Versteck gehabt und gebadet hatte. Eine nackte, alte Frau, die am
weidenbewachsenen Ufer saß, auf das Wasser schaute und nicht merkte, dass sie
sich den Tod holte. Nur wenn sie Kartoffeln schälte, hatte van de Loo sich
bislang immer darauf verlassen können, dass sie an ihrem Platz in der Küche
blieb und keinen Unsinn machte.
    Nachdem er die unteren Räume abgesucht hatte, ging er nach oben. In
ihrem Zimmer war Trude nicht. Auch nicht im Bad. Die übrigen Zimmer waren
abgeschlossen. Van de Loo wollte die Suche schon aufgeben, als er ein Geräusch
vom Speicher hörte. Er stieg die steile Treppe hinauf.
    Auf der obersten Stufe standen Tante Gertruds Schuhe, und wenig
später sah er sie. Sie stand im Lichtstreifen des kleinen Dachfensters und trug
nur einen weißen Schlüpfer. Um den Hals hatte sie sich eine lange Kette
geschlungen, neben ihr stand eine alte Zigarrenkiste auf dem Boden. Ihr Körper
erinnerte van de Loo an eine Figur, die er einmal auf Schloss Moyland gesehen
hatte. Ein Mensch wie eine Kerze, zur Hälfte heruntergebrannt. Die schmale,
wachsweiße Gestalt schien mit jedem Atemzug dünner und länger zu werden.
    »Tantchen«, sagte er leise, um sie nicht zu erschrecken. »Was machst
du hier?«
    »Ich warte auf dich.«
    »Auf mich?«, fragte van de Loo verwundert.
    »Natürlich!« Tante Gertrud schaute ihn mit vorwurfsvollen
Mädchenaugen an. »Warum hast du mich so lange allein gelassen?«
    »Woher soll ich denn wissen, dass du hier oben bist? Ich dachte, du
schälst Kartoffeln.« Van de Loo stand noch immer auf der Treppe und zögerte,
sich seiner halb nackten Tante zu nähern.
    »Weißt du, wo mein Kleid ist? Es muss hier irgendwo sein.«
    »Welches Kleid denn?«
    »Das Sommerkleid mit den roten Punkten, das Sarah mir geschenkt
hat.«
    »Ach das«, sagte van de Loo. »Und warum willst du gerade dieses
Kleid anziehen?«
    »Weil ich heute Geburtstag habe!«
    »Du vertust dich. Den haben wir erst letzten Monat gefeiert!«
    »Das sagst du nur, weil du vergessen hast, ein Geschenk zu
besorgen!«
    »Nein, es ist …« Van de Loo brach den Satz ab. Er wusste, dass es
keinen Zweck hatte, sich auf eine Diskussion einzulassen. Wenn Trude sich etwas
in den Kopf gesetzt hatte, konnte man es ihr nicht ausreden und musste warten,
bis die fixe Idee den Kopf von selbst wieder verließ.
    »Nächstes Jahr«, sagte er beschwichtigend. »Nächstes Jahr hast du wieder
Geburtstag!«
    »Das ist nicht wahr!«, rief Tante Gertrud voller Entrüstung. »Ich
habe heute Geburtstag. Das weiß ich genau! Oder willst du behaupten, ich hätte
meinen eigenen Geburtstag vergessen?«
    »Natürlich nicht.«
    »Na also!«
    »Tust du mir trotzdem den Gefallen und ziehst dich wieder an?«
    Tante Gertrud gehorchte. Das Kleid mit den roten Punkten schien sie
schon wieder vergessen zu haben.
    »Wie kann es sein, dass du das Datum deines Geburtstages so genau
behältst?«, fragte er, als sie die Treppe hinuntergingen. »Zahlen und Fakten
sind doch sonst nicht deine Sache.«
    »Ach Conrad«, sagte sie. »Du kannst manchmal Fragen stellen! So was
spürt eine Frau einfach!«
    Zur Feier des Tages gab es Hühnchen mit Reis. Dazu Feldsalat und
einen Nachtisch, den Tante Gertrud heimlich vorbereitet hatte, weil er eine
Überraschung sein sollte. Ausnahmsweise kam Johanna pünktlich zum Essen. Sie
arbeitete als Grundschullehrerin, und freitags zogen sich die Konferenzen oft
bis tief in den Nachmittag hinein. Van de Loo reckte den Kopf, als er das Auto
hörte, und sah durch das Küchenfenster, wie erst Katharina ausstieg, dann
Johanna. Er beobachtete, wie seine Freundin ihr dunkles Haar zurückstrich und
die Tür schwungvoll ins Schloss warf. Sie waren jetzt seit fünf Jahren
zusammen, und ihr Anblick war für ihn noch immer eine tägliche Freude.
    »Und? Was gibt es Neues in der
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