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Export A

Export A

Titel: Export A
Autoren: Lisa Kränzler
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tippe mit dem Zeigefinger auf eine Zeile.
    »Trümmer, Trümmer, Trümmer werde ich aus ihr machen. Sie soll nicht sein –« Der Rest verschwimmt.
    Meine Hände lassen los, das Buch fällt zurück auf die Polster.
    Wie kann es sein, dass ich noch aufrecht gehe und stehe?
    Etwas in mir ist zerbrochen. Kyle ist innerlich verblutet.

43.
    Erste Stunde, letzte Reihe.
    Ich bin müde. Die Angst vor meinen Träumen hält mich wach.
    Mrs. Williams redet, erklärt, gibt Anweisungen – soweit ich das mitbekomme.
    In unregelmäßigen Abständen unternehme ich angestrengte Versuche, ihr zuzuhören, mich auf ihre Worte zu konzentrieren, ihren Zusammenhang und Sinn zu entschlüsseln. Aber schon nach wenigen Sätzen verschwimmt Mrs. Williams Gestalt im Nebel. Die Frau, die Töne, die sie von sich gibt – alles ist so weit weg. Viel zu weit für meine kurzsichtigen Augen. Viel zu leise für meine Ohren, in denen es dröhnt.
    Meine Hände liegen flach und kalt auf der Tischplatte. Zwei Werkzeuge, die Realität formen und mir den Rücken zuwenden.
    Flossen, die nachts durch Seen aus Blut paddeln. Maulwurfartige Grabschaufler . Blind, bewusstlos, mit instinktiver Brutalität haben sie meine Hoffnungen untergraben, mein Leben zerwühlt.
    Die Erde trägt mich nicht. Sie platzt auf unter dem Gewicht meiner Schuld. Ich breche ein, hinab und hinein ins Erdreich, ins To ten reich. Dunkler, frischer Dreck klebt an meinen Füßen. Eine Schmutzspur schleift mir nach.
    Während ich hier sitze, verbindet sich Kyles Körper mit der Erde.
    Er verwest, zerfällt in kleinste Teilchen. Er verbindet sich mit den Elementen, um bald überall sein zu können. Die Erde, die einst sein Fleisch war, greift nach mir, ich atme den Staub seiner Knochen, und die Welt, die Welt dreht sich weiter, unbeeindruckt, ungerührt, gleichgültig. Mrs. Williams hält ihre Unterrichtsstunde, die Mitschüler gähnen und schauen auf ihre Armbanduhren.
    Sie wissen nichts von meiner Rechten. Der Schwurhand, die sich aufgebäumt hat und zur Führhand, zur Schlaghand wurde. Die Wahrheit bietet sich ihnen an, liegt offen da, ist mitten unter ihnen, hier, auf diesem Tisch. Nur greifen sie nicht danach. Sie versuchen es gar nicht. Nicht einmal mit halbem Herzen, nicht einmal aus Versehen.
    Ich spreize die Hand und betaste die Fingerknochen. Zwei im Daumen, jeweils drei in Zeige-, Mittel-, Ring- und im kleinen ­Finger. Ich verstecke den Daumen in der Handfläche. Jetzt ist sie ganz harmlos, diese Hand. Ganz schmal. Kaum breiter als Elle und Speiche.
    Ich kremple den Ärmel hoch, drehe das Handgelenk und lasse die fünfbeinige, fleischfarbene Spinne auf den Rücken fallen. Sie zeigt mir ihren flachen Bauch. Eine robuste Platte aus Sehnen, durchzogen von Linien, von denen ich längst nicht mehr wissen will, was sie prophezeien.
    Kryptische Scheiße.
    Warum ist hier nichts eingezeichnet? Keine Warnung, kein gar nichts.
    Drei krumme Hilfslinien. Nur wo sind die Buchstaben, wo ist die Nachricht? Wo ist das Stigma, das mich als Verbrecherin ausweist?
    Ich öffne und schließe meine Faust. Adern und Arterien pumpen sich auf und treten deutlich aus dem Weiß hervor. Grünlich blaue Blutschläuche, in denen es fließt. Die meine Hand immerzu weiterversorgen, egal, was sie tut.
    Kyles Schlauch ist geplatzt, ausgelaufen, hat den Schnee bekleckst wie rote Tinte. Sein Blut hat meinen Fehler markiert, nachdem es für die Korrektur zu spät war.
    Korrektur. Reue. Schuld. Sie kommen immer zu spät. Viel zu spät.
    All die Jahre hindurch bin ich willenlos durch mein Leben getrieben. Ein wachsames, staunendes, träumerisches Gleiten. Eine steile und schneller werdende Talfahrt, direkt auf diesen einen Punkt zu. Wie ein Pfeil bin ich auf mein Ziel zugeschossen, die Grenze, die ich überschreiten würde, fest im Visier.
    Es war mein Moment. Meine Stunde der Machtergreifung. Mein Körper wollte mich handeln sehen. Seine Hände befreien von den Gesten der Bitte und des Gebets. Nichts mehr annehmen, nichts mehr hinnehmen. Innerhalb weniger Sekunden vollzogen meine Werkzeuge die Wandlung zur Waffe. Sie wollten selbst ihr Schicksal bestimmen.
    Meine Hände. Zwei Radikale im Dienste des freien Willens.
    Freier Wille. Pah. Was für eine lächerliche Erwartung an diesen Zellhaufen, den sie Elisabeth getauft haben. Ein aufgeblasener Begriff, hinter dem sich nichts weiter als eine fünfzig Kilo schwere Masse dicht gebündelter, verknüpfter, verzahnter und verschalteter Lebendigkeit verbirgt. Ein Speicher,
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