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Export A

Export A

Titel: Export A
Autoren: Lisa Kränzler
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›complex homicidal violence‹…«
    Mit spitzen Fingern blättere ich um. Das Zeitungspapier knistert verräterisch.
    Ich habe verschlafen. Neben der Spüle trocknet das Frühstücksgeschirr. Drei Tassen, drei Teller.
    Harvey, Mona, Kim und alle anderen Zeitungsleser wissen es jetzt.
    Auch die Radiohörer wissen es.
    Am Nachmittag interviewt das Lokalfernsehen den Schneepflugfahrer.
    Ich kann spüren, wie sich die Nachricht verbreitet, wie sie ihre Kreise zieht. Eine flammende Zunge entzündet die nächste, die wiederum eine weitere entflammt. Wie Opferkerzen.
    Whitehorse brennt, lichterloh und wütend. Brennt darauf, den Mörder zu fassen. Ihn auszuräuchern, aus seinem Bau zu zerren und Rache in Form von Recht zu üben.
    Jeder spricht darüber.
    Scheiterhaufen aus Abscheu werden errichtet. Im Supermarkt, in Büro- und Klassenräumen, an Küchen- und Stammtischen. Man erzählt sich Details und Gerüchte. Hasserfüllte Mütter und Großmütter halten ihre Fackeln gegen die Scheite. Verachtung verqualmt die Luft. Ich reiße Fenster und Türen auf, versuche zu atmen.
    Meine Schuld erstickt mich.
    Sie wissen es. Sie wissen es alle.
    Und Gott?
    Gott schweigt. Verbirgt sich hinter den Wolken.
    Keiner weiß, wann ich vor ihm zum Gericht erscheinen muss.
    Oder ist es bereits geschehen? Hat er mich im Schlaf gestreift, mich gezeichnet?
    Ich schließe mich im Badezimmer ein. Mit den Händen umfasse ich das Waschbecken. Das sind die Hände. Mit diesen Händen habe ich –
    Doch sie tragen kein Mal, sind nicht blutverkrustet. Die großen Handflächen, die kurzen, knochigen Fingerbeine, die wenig damenhaften, ungleichmäßig gefeilten Nägel, der Ring meiner Mutter – sie verbergen ihre Tat, sehen aus wie immer.
    Langsam hebe ich den Kopf. Mein Blick gleitet über Bauch, Brust und Hals meines Spiegelbildes, tastet sich hinauf zu Kinn, Nase, Wangen und Augen. Ich streiche mir die Haare aus der Stirn. Nichts. Kein Zeichen.
    Das Glas zeigt mir eine dünne, abgehetzte Gestalt. Blass, mit ungewaschenen Haaren und weit aufgerissenen, erschreckten Augen in dunklen Höhlen, der Mund verhärtet, schmaler als gewöhnlich, die Lippen eng aufeinander gepresst.
    Wer ist das?
    Was hat sie getan?
    Sie wissen es alle. Sie werden es sehen. Meine Augen werden mich verraten, werden die Bilder jener Nacht widerspiegeln, auf dass jeder in mein Innerstes blicken und mich entlarven kann.
    Ich sage mir tausendmal, dass ich Ruhe bewahren muss. Es führt keine Spur zu mir. Die Reifenabdrücke sind verschüttet, für immer verloren im kalten Weiß. Schuhe und Schläger sind verbrannt.
    Und Tyler, Tyler wird bald aufbrechen, wird Whitehorse verlassen, nach Alberta ziehen, alles wie besprochen. Der einzige Zeuge ist tot. Er ist tot.
    Und es waren meine Hände.
    In der Schule wird eine Schweigeminute für Kyle gehalten. Schließlich war er einst Schüler hier. Im Sommer 2000 hat er seinen Abschluss gemacht.
    In den Gängen hallt sein Name. Ich versiegle meine Ohren, stelle mich taub, überhöre die Gespräche, Spekulationen und Verdächtigungen. Um mich nicht durch meine Teilnahmslosigkeit verdächtig zu machen, steigere ich meine Rauschmitteldosis, bis ich schlicht zu breit bin, um überhaupt irgendetwas von mir geben zu können.

41.
    Tyler und ich sehen uns nicht mehr.
    An einem Sonntag führen wir unser letztes Telefongespräch. Er sagt: »You should leave the country«, und legt auf.

42.
    Am Abend sehe ich Humphreys Bibel, die ansonsten ihren festen Platz auf seinem Nachttisch hat, im Wohnzimmer liegen.
    Ich ziehe an dem roten Lesebändchen, schlage sie auf und übersetze.
    »Und Lamech sprach ⁠… Einen Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine Strieme. Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal.«
    Ich ziehe an dem zweiten Lesebändchen. Es ist grün.
    »Was hast du getan? Die Stimme des Bluts deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bauen wirst, soll er dir hinfort sein Vermögen nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.
    Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Sünde ist größer, denn dass sie mir vergeben werden möge. Siehe, du treibst mich heute aus dem Lande, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden ⁠…«
    Ich wage einen letzten Versuch, schließe die Augen, schlage das Buch auf und
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