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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna
Autoren: Leonid Leonow
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entdeckte sie allmählich darin die Anzeichen von Alter, Stil, nationaler Handschrift, religiöser Bestimmung.
    Bevor sie in die Gegenwart zurückkehrten, ließen sich alle vier auf den Trümmern nieder. Die Stille wurde allein vom geheimnisvollen Rascheln im Laub gestört. Trockener Wind, syrischer Schmuk , wehte lau von Osten und blies auf den Flöten der Steinspalten sein ungezügeltes kurdisches Requiem. Schmutziggelb, von der Farbe eines schwarzmähnigen Löwen, fiel eine Wolke ins Himmelsblau und zog fern, wenn Shenja nicht irrte, über die Ausläufer des Antilibanon.
    »Was für ein scheußlicher, ekelhafter Staub«, sagte Evgenia Ivanovna, indem sie einen Zipfel des hellblauen Chiffonschals vor den Mund hielt. »Russischer Dreikönigsfrost ist dagegen der reinste gutmütige Onkel …«
    »Lästern Sie nicht, Jenny«, versetzte der Professor, während ringsum das Knirschen des Sandes aufsprang. »Vor Ihnen liegt die Irdenasche biblischer Reiche. Sie hat zuviel gesehen, um zu erkalten, sich zu bescheiden und der verdienten Ruhe zu pflegen.«
    Mr. Pickering machte im Russischen amüsante Schnitzer, diesmal merkte Evgenia Ivanovna nicht einen davon. Er erging sich über die enormen Massen unbändigen menschlichen Plasmas, das dieser Boden die Jahrhunderte hindurch unentwegt hervorgebracht habe, eigentlich nur zu dem Zwecke, um, aufgeboten von den jeweils weltbeherrschenden Dämonen, Brust gegen Brust anzutreten gegen Horden anderer Zunge, einander niederzusäbeln und klaglos aufzugehen in eben diesem Staubwind. Seit jener Zeit, meinte Pickering, jage und irre die mächtige Asche ihren einstigen Formen nach, um sich wieder zur Haarlocke einer schönen Frau zu fügen, zur Kehle eines Singvogels oder zu einer Safranblüte.
    »Etwas schwülstig, wie?« fragte er, beirrt von Evgenia Ivanovnas aufmerksamem Blick. »Keineswegs«, murmelte sie, nach einer Eidechse hinnickend, einer Altersgefährtin der Ruinen, die ebenfalls zuhörte, und berührte seine Hand. »Nur dürfen Sie sich nicht so aufregen.«
    »Sehen Sie, alle sind hingegangen und sind dennoch hier.« Eine Handvoll Staub, zu seinen Füßen aufgegriffen, zerwehte zwischen den aufgespreizten Fingern zu Rauchfahnen. »Nichts geht verloren – weder in der Geschichte noch in der Biologie. Wie beim Militär: Die Entlassenen liefern ihr Zeug in der Kleiderkammer ab. Haben Sie Erbarmen, Jenny, murren Sie nicht, weil der Staub vergangenen Lebens das Lebende umschmiegt und umschmeichelt.«
    Wie üblich schloß er seine Vorlesung, indem er Dynastien, Despoten, Sekten und sonstige Mühlsteine der Geschichte herzählte, die mitgewirkt hatten, Erze, Leibesfrüchte, Gebeine und Juwelen zu den Körnchen heutigen Puderstaubs zu verwandeln.
    Die Reisenden verweilten in Damaskus eine Woche. Ihr arabischer Freund offenbarte ihnen seine Stadt, vor ihm schon von Mohammed, Moawija und Saladin aufs innigste geliebt, wie eine heilige Schatulle. Bisweilen suchten sie das Kaffeehaus eines hiesigen Armeniers auf – nirgends sonst in der Welt gab es solchen Kaffee. Man gelangte durch geheimnisvolle Gassen hin, die nach Hammelfleisch und Mandeln rochen. Inmitten des Innenhofes plätscherte in einem Mosaikbecken ein Springbrunnen, ein Grammophon wimmerte den Nachkriegsschlager Halleluja , hin und wieder jaulte ein Hund. Da der das Ansehen des Lokals in den Augen der Fremden herabwürdigen mochte, beförderte ihn der Wirt immer wieder mit einem Fußtritt zur Tür hinaus.
    »Ich erkenne meinen gütigen Lehrer gar nicht wieder«, bemerkte Evgenia Ivanovna mit sanftem Spott. »Er hat auf dem ganzen Spaziergang kein Wort gesagt. Oder ist er der ungelehrigsten seiner Schülerinnen müde?«
    »Im Gegenteil, ich kam mir den ganzen Tag ohne Sie verlassen vor. Sie haben ihn mit jemand anders verbracht. Sie schimpften auf ihn, riefen ihn, doch wenn er kam, jagten sie ihn weg. Ist er ein so schlechter Kerl?«
    Evgenia Ivanovna senkte verlegen die Augen. »Nein, nur unglücklich und tot. Ich möchte ihm nichts Übles nachsagen.«
    »Oh, die Bekanntschaften meiner Angestellten interessieren mich nicht.«
    Dieses flüchtige Eifersuchtsgefühl bewog sie, dem Professor ihre Lebensgeschichte mitzuteilen. Sie verhehlte nichts, außer dem Namen des Verstorbenen. Und sonderbar, von nun an sah Stratonow, als sei es ihm peinlich, davon ab, seine einstige Frau zu visitieren. Ein letztes Mal brachte er sich in Erinnerung in einer malerischen Oase nahe Damaskus. El Dshud hieß sie, oder eigentlich Kamiz – wo die
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