Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Evas Auge

Evas Auge

Titel: Evas Auge
Autoren: Karin Fossum
Vom Netzwerk:
ließ den Fünfer in den Schlitz fallen und wählte rasch eine Nummer. Ihr Vater antwortete, müde, er schien gerade geschlafen zu haben.
    »Ich bin’s nur, Eva«, flüsterte sie. »Habe ich dich geweckt?«
    »Ja, aber das wurde wirklich auch Zeit. Ich verschlafe jetzt ja fast schon den halben Tag. Stimmt was nicht?« brummte er. »Du klingst so aufgeregt. Ich kenne dich doch.«
    Seine Stimme war trocken und brüchig, aber trotzdem hatte sie eine Stärke, die Eva immer geliebt hatte. Einen Stachel, der sie an die Wirklichkeit nagelte.
    »Nein, alles in Ordnung. Emma und ich wollten gerade essen gehen, und da kamen wir an einer Telefonzelle vorbei.«
    »Gibst du sie mir mal?«
    »Äh, geht nicht, sie ist unten am Wasser.«
    Eva sah zu, wie die Einheiten im Zähler weitertickten und warf einen raschen Blick auf Emma, die sich gegen die Glastür preßte. Ihre Nase wurde platt wie eine Marzipankartoffel. Ob sie hören konnte, was hier gesagt wurde?
    »Ich habe nicht mehr viel Kleingeld. Wir kommen dich bald besuchen. Wenn du willst.«
    »Warum flüsterst du eigentlich so?« fragte ihr Vater mißtrauisch.
    »Tu ich das?« sagte sie ein wenig lauter.
    »Gib deiner Kleinen einen Kuß von mir. Ich habe eine Überraschung für sie.«
    »Was denn?«
    »Eine Schultasche. Die braucht sie doch im Herbst, nicht wahr? Ich dachte, ich könnte dir die Ausgabe ersparen, du hast es schließlich nicht so leicht!«
    Wenn er wüßte! Laut sagte sie:
    »Das ist lieb von dir, Papa, aber sie weiß ziemlich genau, was sie haben will. Kann die Schultasche noch umgetauscht werden?«
    »Natürlich, aber ich habe die genommen, die mir im Laden empfohlen worden ist. Eine rosa Ledertasche.«
    Eva zwang ihre Stimme in einen normalen Tonfall. »Ich muß auflegen, Papa, ich habe kein Geld mehr. Paß auf dich auf.« Ein Klicken war zu hören, dann war er verschwunden. Der Zähler stand still.
    Emma starrte sie gespannt an.
    »Kommen die jetzt sofort?«
    »Ja, sie schicken einen Wagen. Komm, jetzt gehen wir essen. Sie rufen uns an, wenn sie mit uns sprechen müssen, aber ich glaube nicht, daß das nötig ist, jetzt jedenfalls nicht, vielleicht später, und dann melden sie sich. Uns geht das Ganze ja eigentlich auch gar nichts an, weißt du, im Grunde nicht.«
    Sie redete fieberhaft und fast schon atemlos drauflos.
    »Können wir denn nicht warten und zuschauen, bitte!«
    Eva schüttelte den Kopf. Sie überquerte, die Kleine im Schlepp, bei Rot die Straße. Sie waren ein ungleiches Paar. Eva lang und mager mit schmalen Schultern und langen dunklen Haaren, Emma dick und breit und x-beinig, mit leichtem Watschelgang. Beide froren. Und auch die Stadt fror im kalten Wind. Das ist eine unharmonische Stadt, dachte Eva, sie scheint niemals richtig glücklich sein zu können, weil sie zweigeteilt ist. Jetzt will jede der beiden Hälften die wichtigere sein. Die Nordseite mit der Kirche, dem Kino und den teuersten Warenhäusern, die Südseite mit der Eisenbahn, den billigen Einkaufszentren, den Kneipen und dem Schnapsladen. Letzterer war wichtig, denn er lockte einen gleichmäßigen Strom von Menschen und Autos über die Brücke.
    »Warum ist der Mann denn ertrunken, Mama?«
    Emma starrte ihre Mutter an und wartete auf eine Antwort.
    »Ich weiß nicht. Vielleicht war er betrunken und ist in den Fluß gefallen.«
    »Vielleicht ist er beim Angeln aus dem Boot gekippt. Er hätte eine Schwimmweste anziehen sollen. Ob der wohl alt war, Mama?«
    »Nicht sehr alt. Wie Papa, vielleicht.«
    »Papa kann jedenfalls schwimmen«, sagte Emma erleichtert.
    Sie hatten die grüne Tür des McDonald’s erreicht. Emma drückte sie mit der Schulter auf. Die Gerüche im Lokal, Hamburger und Pommes frites, zogen sie und ihren niemals nachlassenden Appetit an. Vergessen war der Tote im Fluß, vergessen war der Ernst des Lebens. Emmas Magen knurrte, und Aladdin war in Reichweite gerückt.
    »Such dir einen Tisch«, sagte Eva. »Ich hol’ uns was zu essen.«
    Emma ging in ihre Lieblingsecke. Setzte sich unter den blühenden Mandelbaum aus Plastik, während Eva sich vor dem Tresen anstellte. Sie versuchte, das Bild abzuschütteln, das vor ihrem inneren Auge auf und ab wogte, aber immer wieder drängte es sich auf. Würde Emma es vergessen, oder würde sie darüber sprechen? Vielleicht würde sie nachts böse davon träumen. Sie mußten es totschweigen, durften es nie mehr erwähnen. Am Ende würde Emma dann glauben, es sei nie geschehen.
    Die Schlange rückte auf. Eva starrte zerstreut
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher