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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Autoren: Francesca Melandri
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ihm von allen. Zuletzt von dem Menschen, bei dem es mir am schwersten fällt. Vitos Blick verschleiert sich, und eine Weile bringt er nichts anderes heraus als diesen Namen:
    »Ulli …«
    Lange schweigen wir, und es ist ein fast zärtlicher Moment, wie wir so still beisammensitzen, verbunden durch die Erinnerung an den kleinen Jungen mit den Rehaugen.
    Dann fragt er mich nach dem Nanga Parbat. Er erinnert sich tatsächlich an den Namen für unser Versteck! Die Enkel von Sepp und Maria hätten den alten Stall mit dem Heuboden abreißen lassen, erzähle ich, und durch einen neuen ersetzt, der wie ein Laboratorium aussehe. Ich erwähne auch Sigi und seinen Sohn Bruno, der wie sein Vater den Schützen beigetreten sei und sich bei den Paraden den Dreispitz aus dem 19. Jahrhundert auf die Dreadlocks setze. Wie selbstverständlich ist es doch, sich mit Vito zu unterhalten. Auch er erzählt mir von sich und seiner Familie. Aber irgendwann merke ich, dass er angestrengt wirkt. Ich will ihn darauf aufmerksam machen, aber er kommt mir zuvor.
    »Du siehst müde aus«, sagt er mir.
    Ich nicke. »Ich habe nicht mehr richtig geschlafen seit …, ja, ich weiß es selbst nicht so genau …«
    Er legt sich ein kleines Kissen auf die Decke über seinen Beinen, schaut mich an und klopft zweimal leicht mit der flachen Hand darauf. Wieder eine liebevolle Einladung. Als wäre ich eine Katze oder ein Hündchen. Oder seine kleine Tochter.
    Ich ziehe die Schuhe aus, lege den Kopf in seinen Schoß, nehme die Beine hoch und mache es mir bequem. Er nimmt mich in den Arm und rückt mir mit der freien Hand das Kissen unter dem Kopf zurecht.
    »Ich habe das Band gehört«, sage ich leise, den Blick zur Decke gerichtet.
    »Hat Gabriele es dir gegeben?«
    Ich bewege ein wenig den Kopf auf und ab. »Ich wünschte, ich hätte es bekommen, als du es mir geschickt hast.«
    »Hauptsache, du hast es.«
    Der Bauch, auf dem mein Kopf liegt, hallt wie eine Trommel von seiner Stimme wider. Ich schließe die Augen und seufze tief.
    »Aber jetzt ist es zu spät.«
    »Es ist nicht zu spät. Es ist nur später.«
    Der Schlaf überfällt mich: Er war mir die ganze Zeit nahe, aber ich habe ihn nicht bemerkt, bis er mich hinterrücks packte. Ich bekomme noch mit, wie Gabriele mit einer Tasse Kaffee das Zimmer betritt und Vito zu ihm sagt:
    »Den trinkt Eva später. Jetzt schläft sie.«

Km 0– heute
    Und jetzt umarme ich meine Mutter, denn nichts und niemand kann uns für das entschädigen, was wir verloren haben. Auch die nicht, die für den Verlust verantwortlich oder direkt oder indirekt der Grund oder der Anlass für ihn sind. Denn letztendlich, wenn alles abgerechnet und klar zu erkennen ist, wer wem etwas genommen und warum er das getan hat, wenn Soll und Haben und die ganze doppelte Buchführung von Schuld und Groll exakt aufgelistet sind, bleibt doch nur eines, was wirklich zählt: sich wieder umarmen zu können und nicht mehr länger, auch nur für einen Augenblick, das große Glück zu vergessen, zu leben und zusammen sein zu dürfen.
    Nach Hause zurück bin ich geflogen, bin in wenigen Stunden über ganz Italien hinweggeschwebt, mit dem Gesicht dicht am Fenster und dem Gefühl, die lange Halbinsel, die jetzt unter mir lag, auf der Hinfahrt gestreichelt zu haben.
    Dann bin ich sofort zu meiner Mutter gefahren und habe ihr von Vito erzählt.
    Sie hat mich angeschaut und nicht gleich etwas gesagt. Aber dann höre ich aus ihrem Mund:
    »Er muss dir sehr gefehlt haben.«
    Es sind die Worte, auf die ich dreißig Jahre lang gewartet habe, was mir aber erst jetzt, als sie sie ausspricht, bewusst wird. Ich nehme sie auf und berge sie in mir wie einen kostbaren Schatz.
    »Und du? Hast du oft an Vito gedacht?«, frage ich sie dann.
    Meine Mutter reagiert seltsam, streift die Hausschuhe von den nackten Füßen und verhakt die großen Zehen. Sie betrachtet sie lange.
    »Jeden Abend, vor dem Einschlafen.«
    Ich bleibe, um bei ihr zu übernachten. Es hat noch mal gefroren, und die Straßen sind glatt. Sie schläft auf dem Sofa ein, mit dem Kopf auf dem von Ruthi bestickten Kissen, ihren immer noch wunderschönen Mund leicht geöffnet. Sie zu betrachten tut mir fast weh, aber es ist ein guter Schmerz.
    Und ich denke: Gerda schloft .
    Gerda schläft.

Epilog
    Zum einen ist da die Zeit, die verstreicht, um uns herum, uns entgegen und durch uns hindurch, die Zeit, die uns bindet und formt, die Erinnerungen, die wir hegen oder verdrängen, das heißt: unsere Geschichte.
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