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Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme

Titel: Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
Autoren: Francesca Melandri
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Gesten sind so konsequent und unerbittlich wie die einer Mörderin.
    Immer schon ist Gerda Huber früh aufgestanden, und auch jetzt als Rentnerin hält sie es weiter so. Es klingelt sechs-, siebenmal, bevor sie rangeht.
    Ohne Begrüßung komme ich direkt zur Sache. Warum, frage ich sie. Warum hast du das Päckchen zurückschicken lassen?
    Sie schweigt.
    Vielleicht war sie schon auf, vielleicht hat das Telefon sie auch aus ihrem leichten Rentnerinnenschlaf gerissen. Noch nicht einmal »Ciao, ich bin’s« habe ich zu ihr gesagt.
    Bis sie endlich begreift, wovon ich überhaupt rede, braucht sie eine ganze Weile, in der ich sie weiter mit Sätzen so scharf wie Schwertklingen bombardiere.
    Dann:
    »Woher weißt du davon?«
    »Ich bin in Reggio Calabria. Ich bin hier, um Vito zu besuchen, der im Sterben liegt.«
    »Aber wie …«
    Anstatt auf sie einzugehen, setze ich ihr weiter zu.
    »Stell dir doch mal vor, jemand hätte dafür gesorgt, dass du keinen Vater hast. Dass du ihn nicht sehen kannst. Den eigenen Vater. Nicht als kleines Kind und auch nicht später, als du älter warst. Überleg doch mal. Überleg doch mal, wie das für dich gewesen wäre.«

1992
    Wann hatte Gerda ihren Vater zum letzten Mal gesehen? Bei Peters Beerdigung, ein Vierteljahrhundert zuvor.
    Der Flur wies die seltsamsten Winkel auf. Man ging geradeaus und stieß gegen ein Fenster, das aber nicht bündig, sondern schräg eingesetzt war. Auch die Linien draußen an der Fassade des neuen Altersheims verliefen kreuz und quer, die Balkone waren dreieckig, und die Giebel auf dem Dach waren recht eigen willig geschnitten.
    Das Städtchen hatte lange auf dieses neue Altersheim warten müssen. Sei es wegen der Bevölkerungszunahme oder weil der Tod faul geworden war, jedenfalls waren seit Jahren in der alten Einrichtung für Senioren kaum noch Plätze zu bekommen. Die Warteliste war ellenlang, und die Familien mussten sich Jahre gedulden, bevor etwas frei wurde. Und da die einzige Art, wie ein Insasse sein Zimmer räumen konnte, wenig erfreulich war, wollte man niemandem diesen Abschied wünschen. Durch das neue Gebäude aber gab es jetzt sehr viel mehr Plätze, und Wartelisten waren kaum noch nötig.
    Die Gemeinde hatte beim Bau keine Kosten gescheut, nicht zuletzt, weil durch die Steuerautonomie der Provinz sehr viel Geld hereinkam, sodass man sich zuweilen sogar fragte, wie man das alles ausgeben sollte. Die Architekten, die das Projekt entworfen hatten, waren zufrieden mit ihrem innovativen Werk, den Wänden, die so kühn aufeinanderstießen, den großen Räumen, die nie quadratisch oder rechteckig, sondern rhombisch, trapezförmig oder dreieckig waren. Schade nur, dass es den Bewohnern so schwerfiel, sich bei all diesen spitzen Winkeln im Haus zurechtzufinden; und wer seine Möbel von daheim mitbrachte, um die Zeit, die ihm noch blieb, im eigenen Bett zu schlafen, musste feststellen, dass es kaum möglich war, sie irgendwo an diesen schrägen Wänden aufzustellen. Aber dafür konnte sich das Altersheim sogar damit brüsten, in Architekturzeitschriften Erwähnung zu finden.
    Von Hermann Hubers Kindern hatte die Heimleitung als Einzige Gerda ausfindig machen können: Ein Sohn war tot, eine weitere Tochter irgendwo im Ausland verheiratet, und niemand wusste, wie sie jetzt als Ehefrau hieß. Blieb nur noch sie, Gerda, die immerhin in dem Städtchen gemeldet war.
    So rief man bei ihr an, am Telefon im Büro von Frau Mayer, die persönlich in die Küche gekommen war, um ihr zu sagen, dass man sie dringend sprechen wolle. Die Krankheit, unter der ihr Vater litt, so erklärte man ihr, sei nun sehr weit fortgeschritten, er spreche auf keine Therapie mehr an, und es bleibe ihm wohl nicht mehr viel Zeit. Wenn sie ihren Vater also noch einmal sehen wolle, solle sie sich beeilen. Andernfalls müsse sie aber auf alle Fälle danach vorbeikommen, um alle For malitäten zu erledigen, die notwendig waren, damit der Nächste auf der Warteliste das Zimmer übernehmen konnte.
    Frau Mayer hatte Gerda während des Telefonats in ihrem Büro allein gelassen. Trotz ihrer jetzt fast achtzig Jahre hatte das aztekische Grün ihrer Augen kaum etwas von seiner Strahlkraft verloren, und der Zopf, den sie um den Kopf trug, war zwar schlohweiß, aber deswegen nicht weniger akkurat geflochten, vielleicht sogar, wenn überhaupt möglich, noch makelloser als zuvor. Und da sich Gerdas Schönheit mit den Jahren verändert hatte und weniger verschwenderisch geworden war, hatten sich die
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