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Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Titel: Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
Autoren: Constanze Petery
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Zumindest auf den ersten Blick. Irgendetwas schleicht herum, hier will ich nicht nackt sein. Die Gänge zwischen den Wühltischen und Kleiderstangen scheinen frei zu sein, die Luft aus den Ventilatorsystemen rein. Aus irgendeinem Deckenlautsprecher quillt leise, gedämpfte Klaviermusik in Endlosschleife. Während ich mit der Rolltreppe von einem Stockwerk in das nächste gleite, ist es, als ob ich wie die Musik gefangen wäre in der ewigen Wiederholung und nur immer wieder in dieselbe Abteilung fahren würde, dieselben Stoffe streifen könnte, um die Hänger
zum Klirren zu bringen. Einsam ist es, im Kaufhaus zu wandern, einsam, im Kaufrausch zu sein, kein Mensch sieht den anderen, jeder ist allein. War da etwas? Steht dort ein Schatten in der Ecke? Gleitet hier eine Silhouette über den Spiegel? Ist da jemand?
    Es sind viele, die Reste der Menschheit, die Unbeschäftigten, aber Rastlosen, die orientierungslosen Aufsteher, die Nicht-liegen-bleiben-Könner ohne Ziel. Wohin an diesem Tag? Was außer einem Kaufhaus bietet eine Kindheitserinnerung, ein Gefühl der Sicherheit, eine Beschäftigung? Die gebeugten Figuren verlieren sich zwischen den Waren, tasten sich vorwärts wie Blinde, suchen Kontakt und meiden ihn gleichzeitig. Jetzt sehe ich sie, die wenigen, die wie ich keinen anderen Ort finden konnten als dieses Kaufhaus. Wir bilden ein makabres Ballett, eine Schachmaschine, die ihre Figuren konstant vor sich hinschiebt. Nie treffen zwei von uns aufeinander, immer gibt es einen Fluchtweg in eine Umkleidekabine oder die nächste Reihe hinab, wir sind die Opfer einer aussichtslosen Partie, kein Konflikt und keine Aufregung, weil hier die Schachmaschine in alle Ewigkeit gegen sich selbst spielt und kein Ende will, sondern Ewigkeit, Endlosigkeit, Aussichtslosigkeit, und über allem die Klaviermusik, Wächterin über den Spielverlauf. Sie atmet in mein Ohr. Kommt jemand näher? Bricht jemand das Schweigen? Wer …
    »Anita?«
    Ich lege das violette T-Shirt auf den Stapel zurück, von dem ich es genommen hatte, und drehe mich sehr langsam um. Wer hat das gefragt? Er?
    Den kenne ich doch.

    »Anita, Mensch«, sagt er.
    Dass ich so genannt werde, ist selten. Darauf musste ich wirklich eine lange Zeit warten. Ich musste warten, wirklich warten.

3
AMNESIE
    Namen sind Schall und Rauch. Es könnte mir vollkommen gleich sein, ob ihr mich Sonnenkönigin, Kronenkind oder eben Anita nennt. Ich bin es doch trotzdem immer selbst. Oder nicht?
    »Anita?«, hat er gefragt. Er kennt mich nur als das Mädchen Anita, seit fünf Jahren mit ihm in einer Klasse, seit dem Sommer nicht mehr. Inoffiziell nicht mehr. Seit meinem letzten Tag in der Schule wurde ich nicht mehr so genannt. Der Kindername ist für mich gestorben, ich bin das nicht mehr, ich bin ein Vogel, ein Windhauch, ein Pollenkorn, aber nichts Greifbares wie eine Anita. Anita, Mensch. Sehr gute Beobachtung. Bravo, Jonas.
    Er hat mich von meinem Podest gestoßen. Zerbricht mein Marmor? O Gott, wie peinlich. Wenn er das wüsste. Würde mich glatt für größenwahnsinnig halten, für arrogant, wenn nicht für einfach nur übergeschnappt. Ich werde rot, fürchte ich. Ich spüre, dass mir die Hitze in die Wangen kriecht. Gut, dass ich mich doch nicht ausgezogen habe. Wovon ich so träume … Ich muss wohl verrückt sein. Aber jetzt werde ich mir wieder meiner Realität bewusst. Ein Teenager. Ich bin fünfzehn Jahre alt.
    Immer diese Sorgen, was der andere wohl denkt. Hat er gemerkt, dass ich rot geworden bin? Denkt er, ich will was
von ihm? Nein, nein, wir sind nur Freunde. Bekannte. Schulkameraden. Alte. Gute. Er weiß das. Vielleicht.
    »Tag, Jonas. Was machst du denn hier?«
    Er schaut nur skeptisch, leicht ironisch, und dreht sich um, als habe er noch nicht bemerkt, dass wir in einem Kaufhaus stehen. Er muss nichts weiter sagen. »Dumme Frage«, schreien seine Augen lauter als nötig. Er kauft hier ein, wie jeder andere auch. Wahrscheinlich ist er direkt aus der Schule hergekommen, es kann noch nicht später als Mittag sein. Außerdem trägt er das weiße T-Shirt mit dem leicht angerissenen Saum, das ihm an müden Schulmorgen immer zuerst in die Hände zu fallen scheint. Früher wusste ich, wenn er dieses Shirt anhatte, sofort, dass man ihn besser nicht nerven oder beanspruchen sollte. Es war eine Art Warnung vor unausgeschlafenem Teenager. Auch ein wenig eine Entschuldigung dafür, dass er alle Fragen nur kurz angebunden oder mit sinnlosem Gemurmel beantworten würde. Ich konnte
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