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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir
Autoren: Robert Silverberg
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weiterhin alle seine Schläge voraus, so daß er nicht einmal an mich herankam. Zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich mich hart, tüchtig, aggressiv. Während ich ihn verprügelte, sah ich an ihm vorbei und entdeckte außerhalb des improvisierten Rings meinen Vater, ganz rot vor Stolz, und Jimmys Vater mit wütender, verwirrter Miene. Ende der ersten Runde. Ich schwitzte, tänzelte, grinste.
    Zweite Runde: Jimmy ging auf mich los, fest entschlossen, mich in die Pfanne zu hauen. Mit wild schwingenden Armen hat er es immer noch auf meinen Kopf abgesehen. Ich hielt meinen Kopf da, wo er ihn nicht erreichen konnte, tänzelte um ihn herum und landete wieder einen gewaltigen Treffer in seinem Bauch. Als er sich krümmte, versetzte ich ihm noch einen Schlag auf die Nase, und er fiel laut heulend zu Boden. Der verantwortliche Erzieher zählte hastig bis zehn und hob meine Hand. ›He, Joe Louis!‹ schrie mein Vater. Der Erzieher meinte, ich sollte zu Jimmy hinübergehen, ihm aufhelfen und ihm die Hand schütteln. Als er wieder auf die Füße kam, las ich deutlich in seinen Gedanken, daß er mir seinen Kopf in die Zähne rammen wollte, also tat ich, als sei ich ahnungslos, trat aber, als er angriff, kaltblütig zur Seite und hämmerte meine Fäuste auf seinen gebeugten Rücken. Das machte ihn fertig. »David mogelt!« jammerte er. »David mogelt! «
    Wie sie mich alle für meine Gewandtheit haßten! Das heißt, für das, was sie für Gewandtheit hielten. Für meine Fähigkeit, zu erraten, was geschehen würde. Nun, jetzt wäre das ja kein Problem mehr. Jetzt würden sie mich alle lieben. Würden mich lieben und mich zu Brei schlagen.
    Judith öffnet mir die Tür. Sie trägt einen alten, grauen Pullover und eine blaue Hose mit einem Loch am Knie. Sie streckt mir beide Arme entgegen, und ich drücke sie vielleicht eine halbe Minute lang fest an mich. Drinnen im Wohnzimmer höre ich Musik: das Siegfried-Idyll, glaube ich. Süße, liebliche, akzeptierende Musik.
    »Schneit es schon?« frage sie mich.
    »Noch nicht. Nur grau und kalt ist es draußen.«
    »Warte, ich hole dir einen Drink.«
    Ich stehe am Fenster. Ein paar Schneeflocken treiben vorbei. Mein Neffe erscheint und beobachtet mich aus einem Abstand von zehn Metern. Zu meiner Verwunderung lächelt er und sagt herzlich: »Hallo, Onkel David!«
    Das muß Judith ihm eingeschärft haben. Sei nett zu Onkel David, muß sie gesagt haben. Er fühlt sich nicht wohl, er hat in letzter Zeit große Sorgen gehabt. Und so steht der Kleine da und ist nett zu Onkel David. Ich glaube nicht, daß er mir je schon einmal zugelächelt hat. Nicht einmal, als er noch in der Wiege lag. Hallo, Onkel David. Okay, Kleiner. Ich habe kapiert.
    »Hallo, Pauly! Wie geht es dir?«
    »Gut«, antwortet er. Damit sind die gesellschaftlichen Formen erfüllt; nach meinem Gesundheitszustand erkundigt er sich nicht, sondern nimmt sich ein Spielzeug und vertieft sich darin. Immerhin, seine großen, glänzend-dunklen Augen mustern mich von Zeit zu Zeit immer wieder, und ich kann in seinem Blick keinerlei Feindseligkeit entdecken.
    Wagner endet. Ich durchstöbere die Schallplattenständer, wähle eine Platte, lege sie auf. Schönberg, Verklärte Nacht. Stürmisch-angstvolle Musik, gefolgt von Ruhe und Resignation. Wieder dieses Thema des Akzeptierens. Gut. Gut. Der Klang der Streicher hüllt mich ein. Volle, üppige Akkorde. Judith kommt und bringt mir einen Rum. Sie selbst hat sich etwas nicht ganz so Starkes mitgebracht, Sherry oder Vermouth. Sie sieht ein bißchen spitz aus, ist aber sehr freundlich und sehr offen.
    »Prost«, sagt sie.
    »Prost.«
    »Gute Musik, die du da aufgelegt hast. Viele Menschen würden nicht glauben, daß Schönberg auch sensibel und sanft sein kann. Aber das ist natürlich ein ganz früher Schönberg.«
    »Ja«, sagte ich, »die Romantik vergeht einem, wenn man älter wird, wie? Was hast du denn in letzter Zeit so gemacht, Jude?«
    »Ach, nicht viel. Immer wieder ein und dasselbe.«
    »Wie geht’s Karl?«
    »Den sehe ich nicht mehr.«
    »Ach!«
    »Habe ich dir das nicht erzählt?«
    »Nein«, sage ich. »Das ist das erste, was ich höre.«
    »Ich bin es nicht gewöhnt, daß man dir Dinge erzählen muß, Dav.«
    »Dann solltest du dich dran gewöhnen. Du und Karl…«
    »Er drängte mich immer energischer, daß ich ihn heiraten solle. Ich sagte ihm, es sei zu früh, ich kenne ihn noch nicht genug, ich fürchte, mein Leben wieder in eine Form zu pressen, während es immerhin
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