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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir
Autoren: Robert Silverberg
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Wiese! Die Sonne! Er lacht; er hebt sich und beginnt einen ekstatischen Tanz; er wirft den Kopf zurück und singt, er, der in seinem Leben nie zu singen wagte, und die Töne, die aus seiner Kehle quellen, sind reich und voll, rein und klar. Ja! Oh, diese Gemeinsamkeit, diese Berührung, diese Vereinigung, dieses Einssein! Er ist nicht mehr David Selig. Er ist ein Teil in ihnen, und sie sind ein Teil von ihm, und in dieser frohen Vereinigung erlebt er den Verlust des Ichs, gibt er alles auf, was in ihm müde, verschlissen und bitter ist, gibt er seine Ängste und Unsicherheiten auf, gibt er alles auf, was ihn seit so vielen Jahren von sich selber getrennt hat. Er bricht durch. Er ist ganz offen, und das immense Signal des Universums kann ungehindert in ihn eindringen. Er empfängt. Er überträgt. Er absorbiert. Er strahlt aus. Ja. Ja. Ja. Ja.
    Er weiß; die Ekstase wird ewig dauern.
    In diesem Augenblick des Wissens jedoch fühlt er, wie sie ihm entgleitet. Der frohe Akkord des Chors wird leiser. Die Sonne sinkt dem Horizont entgegen. Das ferne Meer zieht sich zurück, versucht den Strand mitzureißen. Er versucht, die Freude festzuhalten, je mehr er sich aber bemüht, desto mehr von ihr verliert er. Die Ebbe aufhalten? Wie? Den Einbruch der Nacht verzögern? Wie? Wie? Der Gesang der Vögel tönt jetzt nur noch ganz schwach. Die Luft ist kalt geworden. Alles entreißt sich ihm. Er steht allein in der zunehmenden Dunkelheit, klammert sich an die Erinnerung jener Ekstase, kann sie vorübergehend zurückholen, noch einmal durchleben – denn sie ist bereits verschwunden und muß durch einen Akt der Willenskraft wieder herbeigerufen werden. Verschwunden, ja. Es ist auf einmal sehr, sehr still. Er hört in der Ferne einen letzten Ton, den Ton eines Saiteninstruments, ein Cello vielleicht, das gezupft wird, Pizzicato, einen wunderschön melancholischen Ton. Twang. Der hallende Akkord. Twing. Die zerspringende Saite. Twong. Die verstimmte Lyra. Twang. Twing. Twong. Und sonst nichts. Schweigen umgibt ihn. Ein endgültiges Schweigen, das durch die Höhlen seines Schädels hallt, das Schweigen, das auf das Zerspringen der Cellosaiten folgt, das Schweigen, das mit dem Tod der Musik kommt. Er kann nichts hören. Er kann nichts fühlen. Er ist allein. Er ist allein.
    Er ist allein.
    »So still«, murmelt er. »So abgeschlossen. Es… ist… so… abgeschlossen… hier.«
    »Selig?« fragte eine tiefe Stimme. »Was hast du, Selig?«
    »Gar nichts«, antwortet Selig. Er will aufstehen, aber alles ist substanzlos. Er fällt durch Cushings Schreibtisch, durch den Fußboden des Büros, durch den Planeten selbst, ohne festen Grund zu finden. »So still. Das Schweigen, Tod, das Schweigen!« Starke Arme halten ihn. Er nimmt mehrere Gestalten wahr, die sich um ihn bemühen. Jemand ruft nach einem Arzt. Selig schüttelt den Kopf, behauptet, es sei nichts, wirklich nichts, nur dieses Schweigen in seinem Kopf, nur dieses Schweigen in seinem Kopf, nur dieses Schweigen.
    Nur dieses Schweigen.
26
    Der Winter ist da. Himmel und Pflaster sind ein nahtloses, ununterbrochenes graues Band. Bald wird es Schnee geben. Aus irgendeinem Grund ist in diesem Stadtteil seit drei oder vier Tagen kein Müll mehr abgefahren worden, und vor jedem Haus sind pralle Plastiktüten voll Abfall aufgestapelt; trotzdem hängt kein übler Gestank in der Luft. Nicht einmal Gerüche können bei diesen Temperaturen gedeihen: Die Kälte erstickt alle Ausdünstungen, jedes Zeichen organischer Realität. Hier triumphiert nur der Beton. Es herrscht Schweigen. Magere schwarze und graue Katzen, reglose Statuen, spähen aus den Torwegen. Der Verkehr ist dünn. Während ich von der Subwaystation zu Fuß durch die Straßen zu Judiths Wohnung gehe, wende ich meine Augen von den Gesichtern der wenigen Passanten ab, denen ich begegne. Ich scheue ein wenig vor ihnen zurück, wie ein Kriegsversehrter, der gerade aus der Rehabilitationsklinik entlassen worden ist und sich seiner Verstümmelung noch schämt. Natürlich weiß ich nicht, was die anderen denken; ihre Gedanken sind mir jetzt verschlossen, sie sind von einem Mantel undurchdringlichen Eises umgeben; ironischerweise jedoch stehe ich unter dem Eindruck, daß sie mühelos in mich eindringen können. Daß sie mir direkt in die Seele schauen und sehen können, was aus mir geworden ist. Das ist David Selig, müssen sie denken. Wie achtlos er war! Welch ein schlechter Verwalter seiner Gabe! Er hat alles verkehrt gemacht und sie sich
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