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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir
Autoren: Robert Silverberg
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allgemeines Bild von Cushings Geist wahrzunehmen, der energisch, stark, tüchtig ist, aber auch konventionell und borniert, der Geist eines schwerfälligen Republikaners, der Geist eines prosaischen Angehörigen der Ivy League. An erster Stelle darin wohnt keineswegs seine Sorge um Selig, sondern eine selbstgefällige Zufriedenheit mit seiner Person: der strahlendste Glanz kommt von Cushings Bewußtsein der eigenen, glücklichen Position im Leben, umrankt von einer Vorort-Villa, einer stämmigen, blonden Ehefrau, drei hübschen Kindern, einem zottigen Hund, einem blitzblanken neuen Lincoln Continental. Als Selig tiefer eindringt, sieht Selig, daß Cushings Sorge um ihn unaufrichtig ist. Hinter dem ernsten Blick und dem aufrichtigen, herzlichen, mitfühlsamen Lächeln liegt allerheftigste Verachtung. Cushing verabscheut ihn. Cushing hält ihn für verdorben, nutzlos, wertlos, gescheitert, für eine Schande für die Menschheit im allgemeinen und den Columbia-College-Jahrgang 1956 im besonderen. Cushing findet ihn sowohl körperlich als auch moralisch abstoßend, sieht ihn als ungewaschen und unsauber, wahrscheinlich sogar als syphilitisch an. Cushing verdächtigt ihn der Homosexualität; Cushing hegt für ihn die gleiche Geringschätzung wie der Rotarier sie für den Rauschgiftsüchtigen hegt. Es ist Cushing unmöglich, zu verstehen, wie ein Mann, der eine Columbia-Ausbildung genossen hat, die Demütigungen hinnehmen kann, die Selig erduldet hat. Selig zuckt vor Cushings Ekel zurück. Bin ich wirklich so verächtlich, denkt er, bin ich wirklich menschlicher Abschaum?
    Seine Verbindung mit Cushings Geist wird immer stärker und immer tiefer. Es berührt ihn nicht mehr, daß Cushing nur Geringschätzung für ihn übrig hat. Selig gleitet in eine Abstraktion hinein, in der er sich nicht länger mit jenem elenden Strolch identifiziert, den Cushing in ihm sieht. Was weiß Cushing denn schon? Kann Cushing in den Geist anderer Menschen eindringen? Kann Cushing die Ekstase des echten Kontaktes mit einem Mitmenschen empfinden? Und Ekstase liegt darin. Göttergleich fährt er einher in Cushings Geist, an den externen Abwehrmechanismen vorbei, an den engstirnigen Gefühlen des Stolzes und den Snobismen vorbei, an der sich selbst beweihräuchernden Überheblichkeit vorbei bis in den Bereich der absoluten Werte, bis in das Reich des authentischen Ichs. Kontakt! Ekstase! Dieser steife Cushing ist nur die äußere Hülle. Hier lebt ein Cushing, ein erbärmlicher Cushing, den sogar Cushing selbst nicht kennt: Aber Selig kennt ihn.
    Seit Jahren ist Selig nicht mehr so glücklich gewesen. Goldenes, stilles Licht erfüllt seine Seele. Eine unwiderstehliche Fröhlichkeit ergreift von ihm Besitz. Er läuft in der Morgendämmerung durch dunstige Haine, spürt, wie die Farnwedel sanft gegen seine Schienbeine schlagen. Sonnenlicht schimmert durch das grüne Laubdach, Tautropfen glitzern mit innerem, kaltem Feuer. Die Vögel erwachen. Ihr Lied ist lieblich und süß, ein fernes Zwitschern, verschlafen, weich. Er läuft durch den Wald, und er ist nicht allein, denn eine Hand ergreift die seine; und er weiß, daß er nie allein gewesen ist und niemals allein sein wird. Der Waldboden unter seinen bloßen Füßen ist feucht und schwammig. Er läuft. Er läuft. Ein unsichtbarer Chor singt einen harmonischen Akkord und hält ihn, hält ihn, hält ihn, schwillt an in perfektem Crescendo, bis dieser Akkord, gerade in dem Augenblick, als er aus dem Hain hervorbricht und auf eine sonnenbeschienene Wiese hinauskommt, den ganzen Kosmos erfüllt, in magischer Fülle endlos vibriert. Er wirft sich zu Boden, birgt das Gesicht an der Erde, schmiegt sich in den duftenden Grasteppich und spürt das innere Pulsieren der Welt. Das ist Ekstase! Das ist Kontakt! Andere Seelen umgeben ihn. Wohin er auch geht, überall fühlt er ihre Gegenwart, fühlt, wie sie ihn willkommen heißen, ihn stützen, sich ihm entgegenrecken. Komm, sagen sie, komm zu uns, sei einer von uns, wirf die zerfetzten Lumpen deines Ichs von dir, laß alles zurück, was dich von uns trennt. Ja, antwortet Selig. Ja. Ich bekenne mich zur Ekstase des Lebens. Ich bekenne mich zu der Freude des Kontakts. Ich gebe mich in eure Hände. Sie berühren ihn. Er berührt sie. Dies ist der Grund, weiß er, aus dem ich meine Gabe erhalten habe, meine Gnade, meine Macht. Denn dies ist der Augenblick des Bekennens und der Erfüllung. Komm zu uns! Komm zu uns! Ja! Die Vögel! Der unsichtbare Chor! Der Tau! Die
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