Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft
Zwei Stühle trug sie herbei. Bald klapperten die Nadeln ihres Strickzeuges.
»Wird wohl noch eine halbe Stunde dauern«, sagte sie. Sie griff nach dem Knäuel. »Ach, die Wolle! Karl, ich habe die Wolle vergessen. Lauf und hole mir einen Strang.«
»Ist der Wollkasten nicht leer, Mutter?«
»Ja. Wir müssen die Wolle vom Frühjahr anbrechen. Die Babett hat sie zurückgebracht. Aber sie ist noch nicht gewogen. Ich schätze, unser Lenaschaf hat diesmal einen dicken Pelz gehabt. Geh, Karl, leg die Wolle auf die Waage, und dann bring mir einen Strang.«
Karl rekelte sich faul. Sie kann mich nicht sitzen sehen, dachte er verstimmt. Im Hause roch es nach abgestandenem Essen. Frau Ulpius hatte für ihren Mann das Mittagessen abgedeckt und in den Backofen geschoben. Karl nahm das Wollpaket aus dem Schrank und ging in die Stube. Mit geschickten Fingern löste er die Verschnürung. Das Paket sprang auseinander, und die gelbliche Wolle quoll hervor, ganz gleichmäßig gesponnen. Dafür war die Babett bekannt. Die zwei Waagschalen hingen im Gleichgewicht. Der Zeiger stand senkrecht genau über der Null. Sieben Strang Wolle passten jeweils in eine Messingschale. Tief sank sie hinunter, und der Zeiger schlug bis über die Messskala hinaus zur Seite.
Gewicht um Gewicht ließ Karl in die andere Schale klimpern. Endlich schwebte die Wolle, der Zeiger pendelte sich ein. Karl wog, verpackte und notierte die Gewichte. Schließlich zählte er zusammen.
»Sechs Pfund und hundert Gramm. Brav, Lenaschaf. Fast ein Pfund Wolle mehr als im letzten Herbst.« Er legte die Stränge in den Wollkasten. Nur einen ließ er in der Waagschale liegen, dazu so viele Gewichtsteine, wie sechs Pfund und hundert Gramm ausmachen. Das waren bis auf die beiden größten Steine alle, die Mutter besaß. Mit Steinen, Waagen und Wolle trat er wieder vor das Haus.
»Was schleppst du alles mit, Karl?«
»Sieh mal, Mutter, so viel Wolle haben wir im Frühjahr geschoren.« Er hielt ihr die Schale mit den Gewichtsteinen hin.
»Hast du die vielen Steine nicht zusammengezählt, Junge? Ich kann das nicht auf einen Blick.«
»Doch, ich habe alles ausgerechnet. Es sind mehr als sechs Pfund, genau hundert Gramm mehr.«
»Ich dachte es mir schon. Die Tiere merken auch, wenn es einen harten Winter gibt. Sie bekommen dann einen dickeren Pelz.«
»Den könnte ich auch gebrauchen.« Frau Ulpius und Karl zuckten zusammen. Unbemerkt war Herr Ulpius herangekommen.
Karl forschte in seinem Gesicht. Doch er konnte nicht darin lesen, wie es in der Kreisstadt stand.
»Wie ist es, Vater«, drängte ihn Frau Ulpius, »wie steht es?«
»Wie soll es sein«, seufzte Vater. »Ich bin bald müde. Drei Tage dauert der Prozess bereits. Zeugen, Zeugen, Zeugen. Dieser weiß etwas und jener noch mehr, und alles läuft darauf hinaus, dass Waldhoff zwar ein ganz guter Kerl sei, man traue ihm so etwas gar nicht zu, aber man habe eben das und das gesehen, aufgeschnappt, vermutet.«
Herr Ulpius nahm die Waage, schüttete die Gewichte in seine Hand und steckte sie in die Tasche.
»Da, Junge, halt die Waage.« – »Einer hat gehört, dass Waldhoffs Junge, der Sigi, zu seinem Vater gesagt hat: ›Ob das wohl herauskommt?‹«
Herr Ulpius warf den kleinsten Stein in die Schale. Der Zeiger schlug um eine Haaresbreite aus. »Ein anderer weiß, dass Waldhoff die Tage nach Peter und Paul verstört herumgelaufen sei.« Wieder klapperte ein Stein in die Schale. »Frau Sippenkuhlen, die er sonst immer freundlich gegrüßt hat, erinnerte sich genau, dass er am Tage nach Peter und Paul wie vor den Kopf geschlagen dicht an ihr vorbeigelaufen sei, ohne sie auch nur zu bemerken.«
Das Gewicht schlug auf, der Zeiger zitterte nach links. Herr Ulpius wog nun einen schweren Gewichtstein in der Hand. »Gestern war Mehlbaum an der Reihe. Er blieb dabei, dass er Ruth von seinem Fenster aus im Hof gesehen habe. Gewiss, nur kurz, aber er kennt sie ja. Sie schleppte einen Sack, einen schweren Sack.«
Plumps. Das Gewicht zog die Schale herunter.
»Und heute?«, fragte Karl. »Was gab es heute?«
»Zuerst sah es ganz gut aus«, berichtete Herr Ulpius. »Der Verteidiger ließ dem Gericht alle Messer vorlegen, die bei der Haussuchung beschlagnahmt worden waren. Drei Gutachter traten auf. Sie widerlegten die Ansicht des Staatsanwaltes, dass der Mord wahrscheinlich mit dem Messer Nummer dreizehn durchgeführt worden sei. Alle drei sagten übereinstimmend, dass jedes scharfe Messer auf der ganzen Welt ebenso gut
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