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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen
Autoren: Jules Verne
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fragte ich ein wenig zitternd.
    »Das Dis.«
    Und ich hielt das Dis aus, ohne einmal Atem zu holen.
    Der Priester und Herr Walrügis ließen es sich nicht nehmen, ihre Befriedigung zu zeigen.
    »Jetzt kommen die Mädchen an die Reihe!« befahl Meister Effarane.
    Und ich dachte: »Wenn Bettys Ton nur auch das Dis wäre.« Es hätte mich nicht gewundert, unsere beiden Stimmen paßten ja so gut zusammen!
    Die Mädchen wurden eines nach dem anderen geprüft. Der Ton des einen war das H, jener des anderen das E. Als Betty Clère an der Reihe war, stellte sie sich sehr eingeschüchtert vor Meister Effarane hin.
    »Laß hören, Kleine.«
    Und sie sang mit ihrer lieblichen Stimme, die so angenehm klang, daß man einen Distelfink zu hören glaubte. Aber es war bei Betty dasselbe wie bei ihrem Freund Joseph Müller. Man mußte die chromatische Tonleiter zu Hilfe nehmen, um ihren individuellen Ton zu finden, und schließlich wurde ihr das Es zugeteilt.
    Zunächst war ich betrübt, aber nach reiflicher Überlegung konnte ich nicht anders, als stolz sein. Betty hatte das Es und ich das Dis. Nun, ist das nicht dasselbe …? Und ich begann in die Hände zu klatschen.
    »Was hast du denn, Kleiner?« fragte mich der Organist und runzelte die Stirn.
    »Ich habe große Freude«, wagte ich zu antworten, »denn Betty und ich, wir haben den gleichen Ton …«
    »Den gleichen?« schrie Meister Effarane. Und er richtete sich so hoch auf, daß sein Arm die Zimmerdecke berührte. »Den gleichen Ton!« wiederholte er. »Ach, du glaubst, ein Dis und ein Es, das sei dasselbe, du Ignorant, Eselsohren sollte man dir aufsetzen! War es wohl euer Eglisack, der euch einen solchen Stumpfsinn beibrachte? Und Sie ließen das zu, Priester …? Und Sie auch, Schulmeister …? Und Sie ebenfalls, altes Fräulein?«
    Die Schwester von Herrn Walrügis suchte nach einem Tintenfaß, das sie ihm an den Kopf werfen konnte.
    Aber er fuhr fort und überließ sich dabei der vollen Wucht seines Zornes: »Du kleiner Unglücksrabe, du weißt also nicht, was ein Komma ist, dieser Achtelton, der das Dis vom Es, das Ais vom B unterscheidet und so weiter? Das ist ja allerhand! Ist hier wirklich niemand imstande, Achteltöne zu beurteilen? Gibt es denn nur geschrumpfte, verhärtete, verkalkte, geplatzte Trommelfelle in den Ohren von Kalfermatt?«
    Wir wagten uns nicht zu rühren. Die Fensterscheiben klirrten von Meister Effaranes gellender Stimme. Ich war untröstlich darüber, diesen Ausbruch provoziert zu haben, und sehr traurig, daß zwischen Bettys und meiner Stimme dieser Unterschied bestand, wenn es auch nur ein Achtelton war. Der Pfarrer schaute mich bedeutungsvoll an, Herr Walrügis warf mir Blicke zu …
    Dann beruhigte sich der Organist plötzlich und sagte: »Aufgepaßt! Jedes nimmt seinen Platz in der Tonleiter ein!«
    Wir begriffen, was gemeint war, und jedes Kind begab sich an den seinem persönlichen Ton zukommenden Platz, Betty als Es an den vierten Platz und ich als Dis neben sie, unmittelbar neben sie. Das heißt, wir stellten eine Panflöte oder vielmehr Orgelpfeifen dar mit dem jeweils einzigen Ton, den jede einzelne Pfeife hervorzubringen vermag.
    »Die chromatische Tonleiter«, rief Meister Effarane, »und zwar richtig. Sonst …!«
    Wir ließen es uns nicht zweimal sagen. Der mit dem C betraute Schulkamerad begann; es ging weiter; Betty sang ihr Es, dann ich mein Dis, und den Unterschied konnten die Ohren des Organisten, wie er sagte, beurteilen. Nachdem wir die Tonleiter hochgeklettert waren, sangen wir sie dreimal hintereinander abwärts.
    Meister Effarane schien sogar ziemlich befriedigt zu sein.
    »Gut, Kinder!« sagte er. »Es wird mir gelingen, aus euch eine lebende Klaviatur zu machen!«
    Und da der Pfarrer mit nicht sehr überzeugter Miene mißbilligend den Kopf schüttelte, entgegnete Meister Effarane: »Warum nicht? Man hat doch auch mit Katzen ein Klavier zusammengestellt, mit Katzen, die je nach dem Miauen ausgewählt wurden, das sie ausstießen, wenn man sie in den Schwanz kniff! Ein Katzenklavier, ein Katzenklavier!« wiederholte er.
    Wir begannen zu lachen, ohne recht zu wissen, ob es Meister Effarane bei diesen Worten ernst war oder nicht. Aber später erfuhr ich, daß er die Wahrheit gesagt hatte, als er von diesem Klavier aus Katzen sprach, die miauten, wenn ein Mechanismus sie in den Schwanz kniff! Gütiger Gott! Was den Menschen nicht alles einfällt!
    Dann ergriff Meister Effarane seine Mütze, grüßte, wandte sich um und verließ
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