Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
gewälzt hatte, fand ich endlich den Schlaf. Wie lange dauerte mein Schlummer? Ich weiß es nicht. Aber plötzlich wurde ich unsanft geweckt, eine Hand hatte sich auf meine Schulter gelegt.
    »Los, Dis!« sagte eine Stimme, die ich sogleich erkannte, zu mir. Es war die Stimme von Meister Effarane.
    »Nun aber los, Dis … Es ist Zeit … Willst du etwa die Messe versäumen?«
    Ich hörte ihn, ohne zu begreifen.
    »Muß ich dich denn aus dem Bett zerren, wie man das Brot aus dem Ofen holt?«
    Mein Bettlaken wurde kurzerhand beiseite geschoben. Ich öffnete die Augen, sie wurden vom Schein einer Laterne geblendet, die in einer Hand baumelte … Ich wurde von einem unbeschreiblichen Schrecken ergriffen … Es war wirklich Meister Effarane, der mit mir sprach.
    »Los, Dis, zieh dich an.«
    »Mich anziehen …?«
    »Es sei denn, du möchtest im Nachthemd zur Messe gehen! Hörst du denn die Glocke nicht?«
    Tatsächlich läutete die Kirchenglocke mit aller Kraft.
    »Also, Dis, wirst du dich nun anziehen?«
    Ohne mir dessen bewußt zu sein, war ich innerhalb einer Minute angekleidet. Es stimmt, Meister Effarane hatte mir geholfen, und was er tat, tat er rasch.
    »Komm«, sagte er und nahm seine Laterne wieder auf.
    »Aber mein Vater, meine Mutter …«, wandte ich ein.
    »Sie sind schon in der Kirche.«
    Es erstaunte mich, daß sie nicht auf mich gewartet hatten. Schließlich gehen wir die Treppe hinab. Die Haustür wird geöffnet, dann wieder geschlossen, und schon stehen wir auf der Straße.
    Was für eine bissige Kälte! Der Dorfplatz ist ganz weiß, der Himmel ganz mit Sternen übersät. Die Kirche und der Kirchturm heben sich vom Hintergrund ab, und es ist, als wäre die Turmspitze von einem Stern angezündet worden.
    Ich folgte Meister Effarane. Aber statt in Richtung Kirche zu gehen, biegt er hier und dort in Seitenstraßen ein. Er bleibt vor Häusern stehen, deren Türen aufgehen, ohne daß er anzuklopfen braucht. Aus den Türen treten meine Kameraden in ihren Festtagskleidern, Hockt, Farina, all jene, die zum Schülerchor gehörten. Dann sind die Mädchen an der Reihe und zuallererst meine kleine Es. Ich nehme sie bei der Hand.
    »Ich habe Angst!« sagt sie zu mir.
    Ich wagte nicht zu antworten: »Ich auch!«, da ich befürchtete, sie damit noch mehr zu erschrecken.
    Endlich sind wir vollzählig. Alle, die ihren persönlichen Ton haben, die ganze chromatische Tonleiter eben … Aber was beabsichtigt denn der Organist? Möchte er etwa in Ermangelung seines Kinderstimmenregisters mit dem Schülerchor ein Register bilden?
    Ob man will oder nicht, man muß dieser phantastischen Person gehorchen, so wie die Musiker ihrem Dirigenten gehorchen, wenn der Stock in seinen Fingern bebt. Wir kommen an der Seitentür der Kirche an und schreiten paarweise hindurch. Noch niemand ist im Kirchenschiff, das kalt, düster, still daliegt. Dabei hat er mir doch gesagt, daß mein Vater und meine Mutter mich hier erwarten …! Ich frage ihn, ich wage es, ihn zu fragen. »Schweig, Dis«, antwortet er, »und hilf der kleinen Es hinaufsteigen.«
    Das tat ich. Nun erklimmen wir alle die enge Wendeltreppe und erreichen die oberste Stufe, die zur Empore führt. Diese ist plötzlich hell erleuchtet. Das Manual der Orgel ist geöffnet, der Balgtreter an seinem Posten, es ist, als wäre er vom heftigen Wind des Blasewerkes aufgebläht, so riesengroß erscheint er!
    Auf ein Zeichen von Meister Effarane stellen wir uns in der richtigen Reihenfolge auf. Er streckt den Arm aus; das Orgelgehäuse geht auf und hinter uns wieder zu …
    Alle sechzehn Kinder sind wir in den Pfeifen des Grandjeu eingeschlossen, jedes für sich, aber nebeneinander stehend. Betty befindet sich als Es in der vierten Pfeife und ich als Dis in der fünften! Ich hatte also das Vorhaben von Meister Effarane richtig erraten. Es gab keinen Zweifel mehr. Da er sein Werk nicht einbauen konnte, setzte er das Kinderstimmenregister mit uns Kindern des Schülerchors zusammen, und wenn der Wind uns über das Pfeifenmaul erreicht, wird jedes seinen eigenen Ton von sich geben! Das sind keine Katzen, sondern wir sind es, ich und Betty und alle unsere Schulkameraden, die über die Tasten der Klaviatur manipuliert werden sollen!
    »Betty, bist du da?« rief ich.
    »Ja, Joseph.«
    »Hab keine Angst, ich bin neben dir.«
    »Ruhe!« kreischte die Stimme von Meister Effarane.
    Und wir schwiegen.
IX
    Unterdessen hatte sich die Kirche nach und nach mit Leuten gefüllt. Durch den schrägen Spalt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher