Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
einen Seite probierte, dann auf der anderen, und, wenn es nicht klappte, Schreie ausstieß wie ein wütender Papagei, der von seiner Besitzerin geneckt wird.
    Brrrr … diese Schreie jagten mir Schauer über den ganzen Körper, und ich spürte, wie mir die Haare zu Berg standen.
    Ich möchte betonen, daß das, was ich sah, mich im höchsten Maß beeindruckte. Die Innereien des geräumigen Orgelgehäuses, dieses aufgeschlitzten Riesentieres mit seinen vor mir ausgebreiteten Organen, das alles beschäftigte mich bis zur Besessenheit.
    Nachts träumte ich davon, und tagsüber kehrten meine Gedanken unaufhörlich dahin zurück. Vor allem der Kasten mit den Kinderstimmen, den ich nicht zu berühren gewagt hätte, erschien mir wie ein Käfig voller Kinder, die Meister Effarane züchtete, um sie mit seinen Organistenfingern zum Singen zu bringen.
    »Was hast du, Joseph?« fragte mich Betty.
    »Ich weiß nicht«, antwortete ich.
    »Ist es vielleicht, weil du zu oft zur Orgel hinaufsteigst?«
    »Ja … vielleicht.«
    »Geh nicht mehr hin, Joseph!«
    »Ich werde nicht mehr hingehen, Betty.«
    Und gegen meinen Willen begab ich mich noch am selben Tag wieder zur Orgel. Ich bekam Lust, mich in diesem Wald aus Pfeifen zu verlieren, in die dunkelsten Winkel zu schlüpfen, Meister Effarane, dessen Hammer ich zuhinterst im Gehäuse klopfen hörte, dorthin zu folgen. Ich hütete mich, zu Hause über all das zu reden; mein Vater und meine Mutter hätten mich für verrückt gehalten.
VII
    Acht Tage vor Weihnachten saßen wir im morgendlichen Klassenzimmer, die Mädchen auf der einen, die Knaben auf der anderen Seite. Herr Walrügis thronte auf seinem Katheder; seine betagte Schwester strickte in ihrer Ecke mit langen Nadeln, wahren Bratspießen von Stricknadeln. Und Wilhelm Tell hatte bereits den Gesslerhut verhöhnt, als die Tür aufging.
    Herein kam der Pfarrer.
    Wir erhoben uns anstandshalber alle, aber hinter dem Pfarrer tauchte Meister Effarane auf.
    Alle senkten den Blick vor den durchdringenden Augen des Orgelbauers. Was wollte er in der Schule, und weshalb wurde er vom Pfarrer begleitet?
    Ich glaubte zu bemerken, daß er mich schärfer ansah als die anderen. Zweifellos hatte er mich wiedererkannt, und mir war unbehaglich zumute.
    Indessen hatte Herr Walrügis sein Katheder verlassen und ging auf den Pfarrer zu, indem er sagte: »Was verschafft mir die Ehre?«
    »Herr Schulmeister, ich wollte Ihnen Meister Effarane vorstellen, der Ihre Schüler zu besuchen wünschte.«
    »Und weshalb?«
    »Er hat mich gefragt, ob es in Kalfermatt einen Schülerchor gebe, Herr Walrügis. Ich habe das bejaht. Ich habe ihm ferner gesagt, daß der Chor hervorragend war zu der Zeit, als der arme Eglisack ihn leitete. Daraufhin äußerte Meister Effarane den Wunsch, den Chor zu hören. So habe ich den Meister heute morgen in Ihre Klasse mitgenommen und bitte Sie, ihn zu entschuldigen.«
    Herr Walrügis hatte keine Entschuldigungen entgegenzunehmen. Denn alles, was der Pfarrer tat, war wohlgetan. Wilhelm Tell würde für einmal warten müssen.
    Und dann, auf ein Handzeichen von Herrn Walrügis hin, setzten wir uns; der Pfarrer auf einen Sessel, den ich für ihn holte, Meister Effarane auf eine Ecke des Tisches, an dem die Mädchen saßen, die bereitwillig zur Seite gerückt waren, um ihm Platz zu machen.
    Am nächsten bei Meister Effarane saß Betty, und ich sah wohl, daß die liebe Kleine sich ängstigte vor den langen Händen und den langen Fingern, die neben ihr luftige Arpeggien beschrieben.
    Meister Effarane ergriff das Wort und sagte mit seiner schneidenden Stimme: »Das sind also die Kinder, die im Chor sind?«
    »Sie gehören nicht alle dazu«, antwortete Herr Walrügis.
    »Wie viele?«
    »Sechzehn.«
    »Knaben und Mädchen?«
    »Ja«, sagte der Pfarrer, »Knaben und Mädchen, und weil sie in diesem Alter dieselbe Stimmlage haben …«
    »Irrtum«, entgegnete Meister Effarane aufgebracht, »und das Ohr eines Kenners würde sich da nicht täuschen lassen.«
    Natürlich erstaunte uns diese Antwort. Gerade Bettys und meine Stimme glichen sich so sehr im Klang, daß man zwischen ihrer und meiner nicht unterscheiden konnte, wenn wir sprachen; später sollte es dann anders sein, da nach dem Stimmbruch bei Frauen und Männern unterschiedliche Stimmlagen entstehen. Auf jeden Fall gab es mit einer Persönlichkeit wie Meister Effarane nichts zu diskutieren, und alle ließen sich das gesagt sein.
    »Die Kinder, welche im Chor singen, mögen vortreten«,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher