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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen
Autoren: Jules Verne
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stand die kleine Tür genau gegenüber dem Wirtshaus »Clère« halb offen. Durch diesen Eingang mußte der Eindringling die Kirche betreten haben. Zuerst ging der Pfarrer, dann der Küster, der eben hinzugekommen war, hinein. Im Vorbeigehen tauchten sie vorsichtshalber ihre Finger in die Weihwasserschale und bekreuzigten sich. Dann tat das ganze Gefolge dasselbe.
    Plötzlich hörte das Orgelspiel auf. Das von dem geheimnisvollen Organisten gespielte Stück endete auf einem Quartsextakkord, der sich unter dem düsteren Gewölbe verlor.
    War der Auftritt all dieser Leute daran schuld, daß dem Künstler die Inspiration entzogen wurde? Wir hatten Anlaß, es anzunehmen. Aber nun versank das zuvor mit Harmonien gefüllte Kirchenschiff wieder in Schweigen, denn wir standen alle stumm zwischen den Säulen mit einem ähnlichen Gefühl, wie wenn man nach einem hellen Blitz auf das Krachen des Donners wartet.
    Aber das hielt nicht lange an. Wir mußten wissen, woran wir waren. Der Küster und zwei bis drei der Tapfersten schritten zur Wendeltreppe am Ende des Kirchenschiffs, die zur Orgelempore hinaufführt. Sie erklommen die Stufen. Als sie oben ankamen, fanden sie niemanden. Der Deckel über der Klaviatur war zugeklappt. Der Blasebalg, noch halb mit der Luft gefüllt, die nicht mehr entweichen konnte, bewegte sich nicht, sein Hebel ragte in die Luft.
    Sehr wahrscheinlich war es dem Eindringling gelungen, den Tumult und die Dunkelheit auszunützen, um die Wendeltreppe hinabzusteigen, durch die kleine Tür zu verschwinden und durchs Dorf zu flüchten.
    Sei dem, wie ihm wolle: Der Küster fand, daß es vielleicht angebracht wäre, vorsichtshalber eine Teufelsbeschwörung vorzunehmen. Aber der Pfarrer war dagegen, und er hatte recht, denn er hätte diese Beschwörung umsonst durchgeführt.
V
    Am nächsten Tag hatte der Marktflecken Kalfermatt einen – ja sogar zwei – Einwohner mehr. Man sah sie über den Dorfplatz spazieren, die Hauptstraße entlang flanieren, einen Abstecher zum Schulhaus machen und schließlich zum Gasthof »Clère« zurückkehren, wo sie ein Doppelzimmer belegten, ohne anzugeben, für wie lange.
    »Es kann einen Tag, eine Woche, einen Monat, ein Jahr sein«, hatte – so berichtete mir Betty, als sie mich auf dem Dorfplatz traf – die bedeutendere der beiden Personen gesagt.
    »Ist es vielleicht der Organist von gestern?« fragte ich.
    »In der Tat, das wäre möglich, Joseph.«
    »Mit seinem Balgtreter …?«
    »Zweifellos der Dicke«, antwortete Betty.
    »Und wie sind sie?«
    »Wie alle Menschen.«
    Wie alle Menschen, das war klar, da sie einen Kopf zwischen den Schultern, am Oberkörper angewachsene Arme und zuunterst an den Beinen Füße hatten. Aber man kann das alles besitzen und doch niemandem gleichen. Und das wurde mir bewußt, als ich die beiden so fremdartigen Fremden gegen elf Uhr erblickte.

    Sie gingen einer hinter dem andern.
    Der eine, fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt, war schmächtig, mager, wie ein großer Reiher mit einem langen gelblichen Gehrock als Gefieder, dessen Beine von einem engen Strumpf umhüllt waren, aus welchem spitze Füße hervorragten, und der eine weit ausladende Mütze mit einem Federbusch trug. Wie schmal und kahl war doch sein Kopf! Zusammengekniffene kleine Augen, aber mit stechendem Blick und voller Glut in der Tiefe der Pupillen, weiße, spitze Zähne, lange Nase, zusammengepreßte Lippen, vorspringendes Kinn. Und was für Hände! Lange, lange Finger … Finger, die sich auf einer Klaviatur über anderthalb Oktaven spannen konnten!
    Der andere war untersetzt, alles nur Schultern, alles nur Brust, ein dicker Kopf mit struppigem Haar unter einem gräulichen Filz, mit dem Gesicht eines starrköpfigen Stieres, einem Bauch in der Form eines Baßschlüssels; ein Kerl von etwa dreißig Jahren und von einer Kraft, mit der er die stärksten Männer der Gemeinde verprügeln könnte.
    Niemand kannte die beiden. Man sah sie zum erstenmal in der Gegend. Mit Sicherheit waren es keine Schweizer, sondern eher Leute aus dem Osten, von jenseits des Gebirges, aus dem Ungarischen. Und tatsächlich erfuhren wir später, daß dem so war.
    Nachdem sie im Gasthof »Clère« eine Woche im voraus bezahlt hatten, nahmen sie mit großem Appetit ein Mittagsmahl ein und verschmähten dabei auch die guten Dinge nicht. Und nun machten sie einen Rundgang, gingen im Gänsemarsch, wobei der Große die Arme schlenkerte, schlendernd umherschaute, vor sich hin sang, unaufhörlich die Finger
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