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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen
Autoren: Jules Verne
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den Takt schlug: Die Kalfermatter waren untröstlich. Da ereignete sich im Dorf eines Abends eine Revolution.
    Man schrieb den 15. Dezember. Es herrschte eine trockene Kälte, eine Kälte, die jeden Luftzug weit weg zu tragen vermag. Der Klang einer Stimme auf dem Berggipfel wäre dann im Dorf hörbar; ein Pistolenschuß, in Kalfermatt abgegeben, würde Reischarden erreichen, und das ist eine gute Meile von uns entfernt.
    Ich war an jenem Samstag zum Nachtessen bei Herrn Giere. Keine Schule am nächsten Tag. Wenn man die ganze Woche gearbeitet hat, ist es erlaubt, am Sonntag zu ruhen, nicht wahr? Wilhelm Tell hat auch das Recht, seine Arbeit niederzulegen, denn er muß müde sein, nachdem er eine Woche lang von Herrn Walrügis ausgefragt wurde.
    Das Haus des Gastwirts grenzte an den kleinen Dorfplatz, es stand linkerseits, fast gegenüber der Kirche, deren Wetterfahne man auf der Turmspitze knarren hörte. Etwa ein halbes Dutzend Gäste hielten sich bei Clère auf, und man war an jenem Abend übereingekommen, daß Betty und ich ihnen ein hübsches Abendlied von Salviati vorsingen würden.
    Nach dem Abendessen hatte man also das Geschirr abgeräumt, die Stühle ordentlich hingestellt, und wir wollten gerade beginnen, als ein ferner Ton unser Ohr erreichte.
    »Was ist das?« fragte einer.
    »Es ist, als käme es aus der Kirche«, antwortete ein anderer.
    »Aber, das ist ja die Orgel …!«
    »Wo denkst du hin? Die Orgel spielt doch nicht ganz von alleine …!«
    Indessen hörte man deutlich, wie die Klänge aus der Kirche strömten, einmal
crescendo,
dann wieder
diminuendo,
und sie schwollen manchmal an, als würden sie den mächtigen Bombarden des Instrumentes entweichen.
    Man öffnete trotz der Kälte die Tür des Gasthauses. Das alte Gotteshaus war dunkel, kein einziger Lichtschimmer drang durch die Fenster des Kirchenschiffs. Zweifellos war es nur der Wind, der durch irgendeinen Mauerspalt strich. Wir hatten uns getäuscht. Man wollte gerade wieder zur Abendunterhaltung zurückkehren, als sich das Phänomen in einer solchen Lautstärke wiederholte, daß kein Irrtum mehr möglich war.
    »Aber man spielt doch in der Kirche!« rief Jean Clère aus.
    »Das ist bestimmt der Teufel!« sagte Jenny.
    »Kann der Teufel Orgel spielen?« erwiderte der Gastwirt.
    »Und warum nicht?« dachte ich für mich selber.
    Betty ergriff meine Hand. »Der Teufel?« fragte sie.
    Inzwischen sind am Dorfplatz die Türen nach und nach aufgegangen; Menschen erscheinen an den Fenstern. Man stellt sich gegenseitig Fragen. Jemand im Gasthof meint: »Der Priester wird einen Organisten gefunden haben, den er hieher bestellt hat.«
    Weshalb hatten wir bloß nicht an diese einfache Erklärung gedacht? Soeben ist der Pfarrer auf der Schwelle seines Hauses aufgetaucht.
    »Was geht hier vor?« fragt er.
    »Es wird auf der Orgel gespielt, Herr Pfarrer«, ruft ihm der Gastwirt zu.
    »Nun gut! Das ist Eglisack, der sich wieder an seine Klaviatur gesetzt hat.«
    In der Tat hindert die Taubheit niemanden daran, seine Finger über die Tasten gleiten zu lassen, und es ist möglich, daß der alte Meister von der Laune gepackt wurde, mit dem Balgtreter nochmals auf die Orgelempore zu steigen. Man muß hingehen und sehen. Aber der Eingang zur Kirche ist geschlossen.
    »Joseph«, sagt der Pfarrer zu mir, »geh rasch zu Eglisack.«
    Ich laufe hin mit Betty an der Hand, die mich nicht loslassen wollte.
    Fünf Minuten später sind wir zurück.
    »Nun?« fragt der Pfarrer.
    »Der Meister ist zu Hause«, sage ich atemlos.
    Das stimmte. Seine Magd hatte mir bestätigt, daß er in seinem Bett wie ein Murmeltier schlafe und der ganze Orgellärm ihn nicht hätte aufwecken können.
    »Aber wer ist es denn?« murmelt Frau Clère eher beunruhigt.
    »Wir werden es gleich wissen!« ruft der Pfarrer aus und knöpft seinen Pelzmantel zu.
    Die Orgel spielte weiter. Es war, als würde ein Sturm von Tönen aus ihr aufsteigen. Die sechzehnfüßigen Pfeifen dröhnten unter vollem Winddruck; das mächtige Gemshorn stieß laute Wohlklänge aus; selbst das zweiunddreißigfüßige Register, das den tiefsten Ton erzeugt, beteiligte sich an diesem ohrenbetäubenden Konzert. Es war, als würde ein musikalischer Windstoß über den Platz fegen. Man hätte glauben können, die Kirche sei nur noch ein riesiges Orgelgehäuse mit dem Turm als Schnarrwerk, das phantastische Kontra-F von sich gab.
    Ich habe gesagt, das Hauptportal sei geschlossen gewesen, aber auf der anderen Seite der Kirche
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