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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen
Autoren: Thomas Bernhard
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Verrücktheit, sagte er. Mit ihrer Methode der Vereinfachung glaubten sie, an uns heranzukommen, aber nichts! Dadurch, durch alles, entfernten sie sich von uns mit den Jahren mehr und mehr, wir hatten uns ja nicht zurückgezogen, sagte er, wir nicht, sie entfernten sich, das ist ein Unterschied, das ist die Tatsache, die sie uns jetzt vorwerfen. Aber wir liefern uns nicht mehr aus, wir geben nicht mehr Anlaß zur Auslieferung unserer Person, unseres Kopfes, unserer Existenz. Wir lassen sie nicht mehr an uns herankommen. Leben als Gewohnheit, Wachsamkeit als Gewohnheit, nichts weiter. In Wahrheit haben mich meine Kunststücke längst umgebracht, wie dich deine Arbeit (über die Luftschichten) längst umgebracht hat, sagte mein Bruder. Eines dieser Kunststücke, das schwierigste, sagte er. Einer deiner Wissenschaftspunkte, wer weiß, welcher. Weil man aus Interesse an Kunststücken nicht damit aufhören kann, sagte er. Weil man nicht schlußmachen kann. Es ist das vollkommenste, das mich umgebracht hat, es ist der konzentrierteste Gedanke, der dich umgebracht hat, sagte er. Das Kunststück lebt, der es macht, ist tot, sagte er. Sie kennen seine Redeweise und ich brauche Sie nicht auf ihre Besonderheiten aufmerksam machen. Und Sie sind mitmeiner Redeweise vertraut und das heißt, wie ich zuhöre. Wie ich mich an die Redeweise meines Bruders gewöhnt habe, weil ich mich an die Krankheit meines Bruders gewöhnt habe, weil mir seine Krankheit bis in die unscheinbarsten Einzelheiten hinein vertraut ist. Und wie Sie wissen, bin ich zeitlebens auf die Krankheit meines Bruders konzentriert gewesen, habe mich größtenteils, über die längsten Strecken meiner Existenz im Hinblick auf die Krankheit meines Bruders aufgegeben, alles zurückgestellt, was mich betrifft, alles immer im Vordergrund, was ihn betrifft. Alles immer nur aus unserem Zusammenleben, nichts aus mir, nichts durch mich, alles aus uns, durch uns. Wahrscheinlich wird mein Bruder nicht mehr auftreten, ich wünsche, er tritt nicht mehr auf, er bleibt in Gomagoi. Alles deutet darauf hin, daß er nicht mehr auftreten wird, wahrscheinlich haben Sie in letzter Zeit, ohne daß ich Sie darauf hinweisen muß, feststellen können, daß mein Bruder in der Kunst, seine Kunststücke vorzutragen, nachgelassen hat, es sind ja schon längst nicht mehr die vollkommenen Kunststücke, die er früher gezeigt hat. Es sind längst nicht mehr die Kunststücke, die uns verblüfft haben. Seine Kunststücke sind nicht fehlerhaft, aber sie sind nicht mehr die Kunststücke, die vollkommen sind. Das vollkommene Kunststück ist ihm schon lange Zeit nicht mehr möglich, Fortschreiten seiner Krankheit, denke ich, Zweifel, nicht nur an seiner Kunst, müssen Sie denken. Und die Unmöglichkeit, diese ungeheure Anstrengung, die wir an ihm gewohnt sind, fortzusetzen. Über so lange Zeit hat mein Bruder die allerhöchste Anstrengung, eine noch viel höhere Anstrengung, als für seine Kunst erforderlich gewesen wäre, gemacht, aber jetzt hat er in dieser Anstrengung nachgelassen. Er gibt nicht auf, denke ich, aber er hat in seiner Kunst nachgelassen. Und so wünsche ich, in seinem eigenen, wie in meinem, wie in Ihrem, wie im allgemeinen Interesse, daß er nicht mehr auftreten wird, daß wir eine Zeitlang, ich denke nicht, zwei, drei Jahre, daß er ganz einfach einige Zeit in Gomagoibleiben wird, warum nicht in der Sennhütte auf dem Scheibenboden, davon später. Unser Aufstieg verlangsamte sich dann doch. Tatsächlich beherrschten wir ja die Ökonomie solcher Aufstiege wie auf den Scheibenboden, die die höchste und die sorgfältigste Ökonomie erforderten, nicht. Wir waren für Aufstiege wie auf den Ortler, wie auf den Scheibenboden, wie überhaupt Unternehmungen suldentalaufwärts, nicht geeignet. Unsere Schritte verlangsamten sich, wahrscheinlich Ursache auch unseres Gesprächs, das kein Gespräch gewesen ist. Aber niemals sentimentalistisch, muß ich sagen, wenn es auch den Anschein hat, dadurch unterschieden wir uns von allen andern uns bekannten ähnlichen Charakteren ähnlichen Alters, daß wir das sentimentalistische ablehnten, nur, manchmal erscheint, was wir andeuteten sentimentalistisch, ist es aber nicht, das war es nicht. Das Wort Kindheit , wie andere immer schon weit zurückliegende Wörter bewirkt diese Vorstellung. Wieviel Landschaft! Wieviel Geisteskrankheit!, sagte er plötzlich. Wenn ich glaube, es ist genug, kommt wieder Landschaft zum Vorschein. Das ist das fürchterliche, daß
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