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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen
Autoren: Thomas Bernhard
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wichtigste Thema überhaupt. Denn was wäre beispielsweise mein Kunststück ohne meine Vortragskunst und was wäre beispielsweise die ganze Philosophie und was wäre die ganze Mathematik und die ganze Naturwissenschaft und die ganze Wissenschaft überhaupt und die ganze Menschlichkeit und die ganze Menschheit überhaupt ohne die Vortragskunst? sagte er. Immer setzte ich mit dieser Schrift an, an einem bestimmten, mich fesselnden Punkt, sagte er, setzte an und entwickelte sie und entwickelte sie bis zu dem Grade ihrer Vollkommenheit, welcher gleichzeitig der Grad ihrer Auflösung, ihres Zerfalls gewesen ist, sagte er. Auf diese Weise sind an die hundert Schriften zu diesem Themaentstanden, die erstaunlichsten, die merkwürdigsten, die unerhörtesten Folgerungen, sagte er. Freilich, ein paar Zettel existieren noch, ein paar Zettel, ein paar Themapartikel. Schriften, sagte er, sind ja im Grunde nur dazu da, vernichtet zu werden, selbst eine Schrift über die Vortragskunst, sagte er. Ursache aller Schriften, Zweifel über ihr Thema, du verstehst, alles anzweifeln, alles aus der Finsternis herausrecherchieren und anzweifeln und vernichten. Alles. Ohne Ausnahme. Schriften sind zu vernichtende Schriften. Die Schwierigkeit ist die, sagte er: alles immer vom gleichen Kopf aus, alles in dem Gedanken, von einem Kopf aus, von einem Kopf aus, von einem Hirn aus, dann auch: mit einem einzigen, immer dem gleichen einzigen Körper . Die Schwierigkeit, das Geistesprodukt oder das Körperprodukt, also mein Kunststück oder deine Arbeit, meine Körperkunst oder deine Geisteskunst (die meinige auf dem Boden und auf dem Seil) und die deinige über die Luftschichten, das Geistesprodukt oder das Körperprodukt, zu zeigen oder zu veröffentlichen, ohne augenblicklich Selbstmord machen zu müssen, diesen fürchterlichen Beschämungsprozeß durchzumachen, ohne sich umzubringen, etwas zu zeigen, das man ist, etwas zu veröffentlichen, das man ist, sagte er, durch die Hölle des Vortragens und durch die Hölle der Veröffentlichung durchzugehen, durch diese Hölle durchgehen zu können, durch diese Hölle des Vortragens und durch diese Hölle der Veröffentlichung gehen zu müssen, rücksichtslos durchzugehen durch diese fürchterlichsten aller Höllen. Wir erblickten die Payerhütte und mein Bruder sagte, obwohl er jetzt vollkommen erschöpft gewesen war: nicht langsamer, nicht, weil wir aufwärts gehen, langsamer . Dieser Vatersatz war von ihm immer beispiellos gut kopiert. Nicht langsamer, weil wir aufwärts gehen, nicht langsamer, weil wir aufsteigen . Dann auch noch: scharfe Luft! scharfe Luft! wie mein Vater. Du hast immer Angst vor deinem Kunststück gehabt, sagte ich. Angst vor dem Kunststück, Angst nach dem Kunststück. Keine Angst während des Kunststücks. Deine Kunststückeangst, sagte ich. Und du Angst vor deiner Arbeit, vor deinen Forschungsergebnissen. Immer Angst, sagte er. Deine Wissenschaftsangst und meine Kunststückeangst, sagte er. An dieser Äußerung hatte er Gefallen und er wiederholte sie zwei, drei Male, während wir wieder ruhiger atmeten und dadurch tatsächlich noch rascher vorwärts kamen, jetzt schon längere Zeit bergauf. Nicht im Kunststück, sagte er, nicht im Kunststück, Angst nicht im Kunststück. Aber deine Angst immer, deine Angst als ununterbrochene Angst, sagte er. Und ich: dafür hatte ich immer auch noch für dich Angst. Während deiner Kunststücke, sagte ich. Während ich mein Kunststück machte, sagte er, hatte ich nicht Angst, es plötzlich nicht zu beherrschen, weil ich nicht daran dachte, weil ich nicht daran denken konnte, ich machte mein Kunststück, während des Kunststückes hatte ich auch niemals Angst, aber du hattest immer Angst, wenn ich mein Kunststück machte. Daß es ihm aufeinmal nicht mehr möglich gewesen war, etwas anderes als seine Kunststücke zu machen, davon sprach er im Wald, wie ich darüber, von einem Augenblick auf den andern mit nichts anderem als mit meiner Arbeit völlig allein gewesen zu sein, mit den Luftschichten, sagte ich, mit nichts sonst. Und was das bedeutete, wozu ich den Ansatz zu einer längeren Studie zwar im Kopf, aber doch nicht so im Kopf hatte, daß ich die Studie hätte vortragen können, aus diesem Grund blieb es bei der Andeutung: und was das bedeutete. Augenblicklich war ich mir wieder der Tatsache bewußt gewesen, daß man nicht nur fortwährend üben muß, Gedanken zu haben und ganz einfach diese Gedanken üben muß, man muß auch fortwährend
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