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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen
Autoren: Thomas Bernhard
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Körperanfälligkeit. Infektionen, sagte er. Einerseits die Krankheiten unserer Mutter, andererseits die Krankheiten unseres Vaters. Und dann Krankheiten, die Krankheiten unserer Mutter und unseres Vaters sind. Ganz neue, unerforschte Krankheiten. Immer von größtem Interesse für alle Ärzte. Monotonie. Antipathie. Sehr früh alleingelassen, zugrundegegangen, sagte ich. Kein Widerspruch. Und dann die Kunststücke und dann deine Wissenschaft und abwechselnd mehr Interesse an den Kunststücken und mehr Interesse an der Wissenschaft, aber immer intensiveres Interesse. Beispiellosigkeit. Wie wir aus unserem Alleingelassensein und aus unserer Angst unsere Kunststücke und unsere Wissenschaft gemacht haben. Keine Hilfe. Kein Zuspruch. Keine zufälligen Ovationen, sagte er. Unsere Bedürfnislosigkeit, die uns zuhilfe gekommen ist. Sonst nichts, sagte er. Und die Kunst, nicht daran zu denken. Deine Wörter, sagte er: Genauigkeit, mehr und mehr Genauigkeit, Unbestechlichkeit, Geistesschärfe. Meine Wörter: Effekte, Verfeinerungsmöglichkeiten, Zurschaustellung. Unser beider fortwährende Verachtung gegen die Umwelt. Abwehren, abweisen, schlußmachen, sagte er. Immer wieder: unter allen Umständen, bei jedem Wetter, unter allen Umständen. Erinnerst du dich? In Basel hatte ich Angst, es gelingt nicht, in Wien hatte ich Angst, in Zürich, in Sankt Valentin. Angst, es gelingt nicht. Zuviel Menschen einmal, dann wieder zuwenig Menschen. Zuviel Aufmerksamkeit einmal, dann wieder: zuwenig Aufmerksamkeit. Zuviel Aufhebens, zuwenig Aufhebens, zuviel Ungeduld, zuviel Erfahrung. Rascher, Kinder , sagte er, über den Suldenbach, rascher, Kinder, über den Suldenbach . Ich höre noch unseren Vater. Wenn wir sagen, was wir denken, er war der rücksichtsloseste, es war etwas anderes. Warum hat er dich gerade immer im Pinggera geohrfeigt? sagte ich. Rascher, Kinder, über den Suldenbach, rascher, Kinder, über den Suldenbach . Ich höre noch meinen Vater. Der Vorzug, anstatt von ihm, von derMutter geohrfeigt zu werden. Mein Bruder sagte: erst als sie beide tot waren, entwickelten wir uns nach unseren Fähigkeiten und nach unseren Bedürfnissen. Nach ihrem Tod getrauten wir uns aus eigener Willenskraft unsere eigene Existenz zu existieren, ohne Eltern waren wir frei. Keine Nachsichtigkeit, sagte er, keine Nachsichtigkeit. Keine Unwahrheit. Wie ich kränkelnd war und wie nach und nach nichts als nur noch Kräfteverfall in mir gewesen ist, sagte er. Unter dem Elterneinfluß, sagte er. Hörst du noch, sagte er, wie er sagt: rascher, Kinder, über den Suldenbach, rascher, Kinder, über den Suldenbach? Keine Unwahrheit. Keine Freisprechung. Ihrer beider Rücksichtslosigkeit und unser beider Verletzbarkeit, sagte er. Keine Freisprechung. Ihrer beider Niederträchtigkeit, sagte er. Rascher, Kinder, über den Suldenbach . Keine Nachsichtigkeit. Zur Strafe auf den Scheibenboden, sagte mein Bruder jetzt, zur Strafe zum Scheibenboden hinauf und zur Strafe vom Scheibenboden herunter und zur Strafe durchs Suldental und zur Strafe nach Gomagoi und zur Strafe nach Hause, alles zur Strafe. Unser Leben, zur Strafe. Unsere Kindheit, zur Strafe. Alles zur Strafe. Plötzlich der Tabarettakamm. Und dann weiter durch Wald. Erinnerst du dich? Bücher. Schriften. Nieder- schriften. Eltern. Kindheit und alles weitere. Der Isolierungsprozeß. Verzweiflungsbruchstücke. Wie wir in Berlin in Hubertusmänteln auftraten. Erinnerst du dich? Zwanzig Jahre eine zu kleine Schuhgröße und einen zu großen Kopf. Das Problem ist immer ein unlösbares Problem gewesen. Aber weiter, vorwärts. Alles immer vor den Kopf gestoßen, wo wir hinkamen. Ich frage, niemand antwortet. Das falsche Instrument gelernt, die falsche Schrittkombination, eine vollkommen falsche Choreografie, sagte er. Zwei Jahre mit den gleichen ausgefransten Hosenfüßen in Dortmund auf der Straße. Wir erhofften uns Unterstützung. Keine Unterstützung. Wir erhofften uns Antwort. Keine Antwort. Keine Briefe. Nichts. Wuppertal, der Schmutz! sagte er. Zwei Jahre sagst du nichts, zwei Jahre. Zwei Jahre nebeneinanderund kein Wort. Erinnerst du dich? Plötzlich sagst du das Wort KOPF. Totale Verfinsterung. Die Katastrophe wird kommen , sagst du, immer wieder, die Katastrophe wird kommen , fortwährend, die Katastrophe muß kommen . Erinnerst du dich? Liebschaften, aber nicht ungeduldig, gleich vorüber, nichts. Zuerst gehen die Schuhe aus dem Leim, dann geht der Kopf aus dem Leim, fällt auseinander, bricht dir
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