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Ernteopfer

Ernteopfer

Titel: Ernteopfer
Autoren: Harald Schneider
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Lastwagen war für mein Vorhaben gera dezu ideal. Der Hänger hatte eine offene Bauweise, bei der der Aufbau aus einem Gerippe bestand, das mit einer Plane umhüllt war. Ich schlich mit Becker in die Nische zwischen Zugmaschine und Hänger. Außer uns trieb sich keine Menschenseele im Freien herum. Jetzt zeigte sich mal wieder, dass ich doch ein praktisch veranlagter Mensch war. Auch wenn ich meist kein Handy mit mir herumtrug, ein Taschenmesser gehörte zu meiner Grundausstattung. Vorsichtig durchschnitt ich den Riemen, der die Plane an der Unterseite des Hängers mittels Ösen hielt. In Zeitlupe zog ich etwa einen Meter des Riemens aus den Ösen der Plane heraus. Jetzt kam der spannende Augenblick. Milli meterweise hob ich die Plane nach oben in der Hoffnung, dabei nicht entdeckt zu werden.
    Kisten, jede Menge gestapelter und streng riechender Kisten, versperrten mir die Sicht zum gegenüberliegenden Ende des Hängers.
    Mit einer Kopfbewegung gab ich meinem temporären Partner zu verstehen, dass es jetzt an der Zeit war, in den Hänger zu klettern. Dazu klemmte ich zuerst meine Tasche in einen Spalt zwischen zwei Kisten, dann stellte ich mich auf die Deichsel und zog mich geschickt an den Kisten hoch. Nun konnte ich über den Rand der obersten Kis ten schauen: Rettiche, nichts als Rettiche. Das weiße Gold von Schifferstadt, wie man hier in dieser Gegend warb. Ich duckte mich etwas, damit ich nicht von der Halle aus zu entdecken war. Die Gefahr war zwar wegen der nahezu vollkommenen Dunkelheit im Hänger eher gering, aber ich musste trotzdem aufpassen. Vielleicht wurde ja noch beladen. Mit einem eleganten Hüftschwung kam Becker mir nach. Für einen Grobmotoriker nicht schlecht, dach te ich. Auch er verzog zunächst die Nase. Zuviel Rettich geruch kann schon ziemlich belästigend wirken. Unsere Riechzellen liefen im Moment wahrscheinlich Amok.
    Nachdem sich mein Puls wieder etwas beruhigt hatte, lugte ich vorsichtig über die oberste Kistenreihe hinaus. Dabei musste ich mich seitlich mit den Händen an den Kisten festkrallen, um nicht nach hinten gegen die Plane zu fallen, um dann womöglich vom Hänger zu rutschen. Diese Stellung war alles andere als bequem, zumal Becker neben mir nun das Gleiche tat.
    Endlich konnten wir sehen, was sich in der Halle ab spielte. Die Deckenbeleuchtung war abgeschaltet, stattdes sen hatte man zwei oder drei Baustellenstrahler auf den Boden gestellt. Dies ergab durch die langen Schatten ein gespenstisches Bild. An mehreren Bierzelttischen arbeite ten etwa eine Handvoll Menschen, darunter auch Petersen. Es war schlecht zu deuten, was sie dort trieben.
    »Sind die verrückt?«, flüsterte mir Becker in diesem Moment ins Ohr, »die schneiden Rettiche.«
    »Was soll das?«
    Ich konnte es beim besten Willen nicht glauben.
    »Na ja, so genau sehe ich es nicht. Aber ich glaube, die schneiden Spiralen in die Rettiche. Das wird hier in der Region so gemacht.«
    Ne, das konnte nicht sein. Wie ein Artist angelte ich mir Jacques’ Tasche, die immer noch ein paar Steigen tie fer klemmte. Dazu musste ich jedoch in die Hocke gehen, was wegen der Enge und Dietmar Becker nicht ganz ein fach war. Mit ausgestrecktem Arm bekam ich die Tasche zu fassen. Zusammen mit der Tasche versuchte ich, mich aufzustellen, natürlich mit nur einer freien Hand. Becker wollte mir dabei helfen, indem er die Tasche auf deren Unterseite griff und mir etwas entgegenschob. Dummer weise hatte ich nicht mit diesem zusätzlichen Schwung gerechnet. Es kam, wie es kommen musste. Ich verlor das Gleichgewicht. Zusammen mit der obersten Rettichkiste, die ich dabei fest umklammert festhielt, knallte ich mit heftigem Getöse gegen die Plane auf der Rückseite des Hängers. Nur Beckers schneller Reaktion hatte ich es zu verdanken, dass ich nicht zu allem Überfluss noch aus dem Hänger stürzte. So hingen wir nun wie ein einzementiertes Denkmal zwischen den Kisten und der Plane und konn ten uns keinen Millimeter weit bewegen, um nicht doch noch einen Absturz auszulösen. Vielleicht wären wir sogar unbemerkt geblieben, wenn nicht diese dumme Kiste, die ich dabei mit runterzog, auf die Deichsel geknallt wäre. So vergingen nur etwa schätzungsweise zehn Sekunden, bis uns mehrere künstliche Lichtquellen gleichzeitig an leuchteten.
    »Hallo, wen haben wir denn da?«
    Ich erkannte Petersens Stimme sofort.
    »Na dann kommen Sie mit Ihrem Freund mal ganz brav von diesem Hänger runter. Georg, hilf den beiden dabei. Ich glaube, unsere
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