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Erde

Erde

Titel: Erde
Autoren: David Brin
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unterhalten.
    »Wie lange, glaubt ihr, würde Isaac Newton brauchen, um diese Hausaufgaben zu lösen?« fragten sie einander. Oder: »Wenn Einstein heute lebte, glaubt ihr, daß er sich um einen akademischen Abschluß bemühen würde?«
    Die gleiche Art lässiger, zu nichts führender Argumentation hatte er auch seine Musikerfreunde gelegentlich erörtern hören. Bei einigen Bierflaschen fragten sie: »Was, meint ihr, würde Mozart mit unserm Zeug anfangen, wenn wir ihn aus seiner Zeit in die 1990er Jahre versetzten? Würde er wütend sein und von verdammtem Lärm sprechen? Oder würde er anbeißen, eine verspiegelte Sonnenbrille tragen und gleich ein Album produzieren?«
    An dieser Stelle pflegte Stan sich einzumischen. »Welchen Mozart meint ihr? Den gesellschaftlichen Karrieremenschen? Den Künstler der Biographien? Oder den draufgängerischen Rebellen von Amadeus?«
    Die Komponisten und ausübenden Musiker schienen durch diesen Trugschluß verwirrt zu sein. »Nun, natürlich den realen.« Ihre Antwort überzeugte ihn, daß trotz aller Nähe und wohlbekannten Verwandtschaft Physiker und Musiker einander nie voll verstehen würden…
    Oh, ich sehe. Natürlich den realen…
    Aber was ist Realität?
     
    Durch ein dickes Fenster aus geschmolzenem Quarz, vermittelt über eine Reihe von dreihundert feldverstärkten Halbspiegeln, beobachtete Stan jetzt das Wesen des Nichts. In einem hermetischen Vacuum schwebend rotierte und tanzte eine potentielle Singularität in Nichtexistenz.
    Mit anderen Warten, die Kammer war leer.
    Aber bald würde Potentialität zu Realität werden. Das Virtuelle würde aktuell werden. Verkrümmter Raum würde Licht ausströmen, und gequältes Vacuum würde in Kürze Materie von sich geben. Das äußerst Unwahrscheinliche würde geschehen.
    Oder mindestens war das die allgemeine Idee. Stan beobachtete und wartete geduldig.
     
    Albert Einstein hat bis zu seinem Lebensende gegen die Implikationen der Quantenmechanik gekämpft.
    Er hatte geholfen, die neue Physik zu erfinden. Sie trug seinen Stempel ebenso wie den von Dirac oder Heisenberg oder Bohr. Und dennoch hatte Einstein sich wie Max Planck stets hinsichtlich ihrer Folgerungen unwohl gefühlt und darauf bestanden, daß die Wahrscheinlichkeitsregeln der Kopenhagener Schule nur rohe Näherungen der realen Muster seien, welche die Welt regieren. Er hatte das Gefühl, unter der fürchterlichen Quantenunschärfe müßte die Signatur eines Konstrukteurs liegen.
    Nur die Konstruktion entging Einstein. Ihre elegante Präzision floh vor den Experimentalphysikern, die erst Atome, dann Kerne und zuletzt die sogenannten ›Fundamentalteilchen‹ anstocherten. Je tiefer sie sondierten, desto undeutlicher wurde das Gewebe der Schöpfung.
    Für eine spätere Generation von Physikern war Unschärfe kein Feind. Sie wurde eher zum Werkzeug. Sie war das Gesetz. Stan wuchs auf mit dem Bild der Natur als einer launischen Göttin. Sie schien zu sagen: Seht mich von weitem an, und ihr könnt so tun, als gebe es feste Regeln – daß hier Ursache und dort Wirkung sei. Aber bedenkt, wenn ihr diesen Trost braucht, dann haltet euch zurück und drückt die Augen zu!
    Wenn ihr es aber wagt näherzukommen – solltet ihr Kette und Schuß im Gewebe meines Gewandes untersuchen –, sagt dann nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.
     
    Stan Goldman erwartete, mit seiner Maschine einen näheren Blick zu tun als irgendwer zuvor. Und er erwartete keine große Sicherheit.
    »Bist du da bereit, Stan?«
    Die Stimme von Alex Lustig hallte durch den Verbindungsgang. Er und die anderen waren im Kontrollzentrum, aber Stan hatte es freiwillig übernommen, hier am Guckloch Wache zu halten. Das war eine lebenswichtige Aufgabe, die aber nicht die Behendigkeit der jüngeren Physiker erforderte… mit anderen Worten, genau passend für einen netten alten Kerl wie ihn. »Ich bin bereit wie eh und je, Alex«, rief er zurück.
    »Gut! Dein Zeitgeber sollte zu laufen beginnen… jetzt!«
    Genau nach Alexens Wort fing das Display zu Stans Linker an, rasende Millisekunden herunterzuzählen.
     
    Nach dem Ende des Gaia-Krieges, als sich die Verhältnisse so weit beruhigt hatten, daß man wieder Grundlagenforschung treiben konnte, hatten sich ihre Bemühungen bald wieder dem Studium der fundamentalen Natur von Singularitäten zugewandt. Jetzt, in diesem Labor weit außerhalb der Marsbahn, hatten man ihnen gestattet, das bisher kühnste Experiment in Angriff zu nehmen.
    Stan wischte die Hände an
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