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Equinox

Equinox

Titel: Equinox
Autoren: Jörg Juretzka
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geblieben war. Das und die Frage nach einem Motiv für seine Enthauptung.
    »Ah, das trifft sich ja ganz hervorragend«, ertönte es hinter uns, und Jochen und ich zuckten zusammen. In diesem Teil des Schiffes übertönte das verdammte Dieselbrummen alle Schritte. Doktor Köthensieker näherte sich uns auf seine den Gesetzen der Schwerkraft widersprechende leichtfüßige Art, paffend wie ein Imker dabei. Über der Schulter trug er ein Fichtenbrett und unter dem rechten Arm etwas, das aussah wie ein zusammengefaltetes Bettlaken.
    Es war ein zusammengefaltetes Bettlaken.
    »Sie wollten wohl Abschied nehmen?«, fragte der Bordarzt auf eine arglose Art, breitete das Leintuch auf dem Metallboden aus und legte das Brett der Länge nach obendrauf. »Wie pietätvoll. Und wie praktisch. Da können Sie mir ja gleich helfen, den Verblichenen in den für Seebestattungen von alters her üblichen Sack zu nähen.«
    Wer hätte ihm sonst geholfen?, fragte ich mich. Hat er gewusst, dass er Jochen und mich hier antreffen würde? Dieses unbestimmte Unwohlsein holte mich wieder ein, das mich seit der Einschiffung nicht recht loslassen wollte. Dieses Gefühl, unter ständiger Beobachtung zu stehen, meine Privatsphäre irgendwo an Land zurückgelassen zu haben. Ein Gefühl, bestärkt durch die beklemmende Gewissheit, nicht weglaufen zu können, hier, vor nichts und niemandem, was wiederum Erinnerungen heraufbeschwört, die seit meiner Haftzeit nicht aufhören wollen, in schöner Regelmäßigkeit mein nächtliches Laken mit Schweiß zu durchfeuchten.
    »Also denn«, riss Köthensieker mich mit robuster Fröhlichkeit aus meinem schwitzigen Frühstadium von Käfig-Koller und zog den Leichnam auf seiner Rollbahre hervor.
    Dies hier war tatsächlich die Leichenkammer der Equinox, professionell eingerichtet und mit gleich zwölf Kühlkammern versehen. Bisschen viel, auf den ersten Blick, doch dürfte das enorm hohe Durchschnittsalter unserer zahlenden Gäste bei der Kalkulation eine Rolle gespielt haben.
    Gemeinsam hoben wir den Leichnam an und ließen ihn auf das Brett herab. Dr. Köthensieker förderte eine Rolle Paketklebeband aus seinem Kittel zutage und band dem Toten nacheinander die Beine und dann auch die von zahlreichen Schnitten entstellten Arme und Hände zusammen wie die einer Geisel.
    »Was wir nicht wollen«, erklärte er dabei, »ist, dass der zu Bestattende beim Rutsch über die Reling anfängt, in seinem Sack mit den Extremitäten herumzufuchteln. Könnte vor allem bei jüngeren Matrosen Alpträume auslösen, so was.« Routiniert griff er den Kopf bei den Haaren, platzierte ihn an die einstmals von der Natur dafür vorgesehene Stelle und zurrte ihn wenig liebevoll mit Metern von Klebeband quer über die zerrupfte Frisur - was seltsam brutal aussah - und mehrmals unter den Achseln hindurch und schließlich noch zwei-, dreimal über Augen und Mund und um das lange Brett herum fest, auf dem der Torso schon fixiert war. »Dafür auch die Planke«, fügte er hinzu. »Für einen glatten Abgang. In Würde, wenn man so will.«
    Bei allem Bemühen: Würde war das, was dem Ganzen am meisten abging. Bis jetzt sah es so aus, als ob man Joseph Beuys sich an einer geköpften Leiche habe austoben lassen. Bisschen Filz und ein Klacks Fett hier und da und die Handschrift wäre unverkennbar. Man war am Ende richtig dankbar für das Laken.
    »Ich kann spüren, dass Sie von meiner Diagnose nicht recht überzeugt sind«, wandte sich der Doktor an mich, ohne den Blick von seiner Arbeit abzuwenden - dem Einfädeln eines groben Zwirns in das Ohr einer großen Nadel.
    Ich nickte, sagte aber nichts. War noch nie ein Fan davon, mich ständig zu wiederholen.
    »Ich verstehe Sie gut«, behauptete der leitende Bordarzt und biss ein langes Ende Faden ab. »Und ich sympathisiere grundsätzlich mit Leuten, die den Dingen gerne auf den Grund gehen.« Er begann, mit ausholenden Bewegungen vom Fußende her den Ersten Steward in seinen Sack einzunähen.
    >Aber<, dachte ich.
    »Aber«, sagte er, »Sie müssen wissen, dass ich nach meinem Studium an der Universität von Sapporo erst mal mehrere Jahre lang als Gerichtsmediziner praktiziert und mir damit einen scharfen Blick für Details zugelegt habe. Ein paar Fälle in dieser Zeit waren, ähnlich wie dieser hier, geradezu bizarr.«
    Und während ich mich an eine Säule lehnte und Jochen, der von irgendwoher Mopp, Schrubber und Eimer aufgetrieben hatte, möglichst unauffällig seinen Obstsalat aufkratzte, tischte uns
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