Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Enwor 10 - Die verbotenen Inseln

Enwor 10 - Die verbotenen Inseln

Titel: Enwor 10 - Die verbotenen Inseln
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
Nichts zu degradieren schien. Aus der Tiefe drang ein machtvolles dumpfes Dröhnen zu ihnen empor, und Kiina konnte die Kälte spüren, die wie ein eisiger Hauch der Ewigkeit von der Wand aus stürzenden Wassermassen ausging.
    Wie viele Jahrmillionen hatte dieser Fluß gebraucht, sich eine halbe Meile tief in den Granit der Erde zu graben? Wie viele Königreiche hatte er entstehen und untergehen sehen? Wie viele Völker waren an seinen Ufern erwacht und wieder verschwunden?
    Kiinas Gedanken begannen auf sonderbaren Pfaden zu wandeln, während sie dastand und den Wasserfall ansah. Aber vielleicht waren sie gar nicht so seltsam; vielleicht war das hier der einzige wirkliche Grund, aus dem Welten wie Enwor existierten; nicht das hektische, von Anfang an zum Scheitern verurteilte Streben der Menschen nach Macht und Ewigkeit, sondern die elementaren Gewalten der Schöpfung, deren Wirken ihnen nur ziellos und blind vorkommen mochte. Hatten Menschen jemals die Ewigkeit gesehen? Hatten denkende Wesen jemals das Verstreichen der Jahrhunderttausende gefühlt, wie Tage, die aufeinander folgten? Die Berge hatten es. Die Flüsse hatten es, und Feuer und Sturm hatten es. Vielleicht war es gerade umgekehrt
    - vielleicht waren
sie
die Hüter
dieser
Dinge, nicht die Krone der Schöpfung, sondern vergängliche kleine Werkzeuge, deren einziger Daseinszweck es war, sich fortzupflanzen und eine kleine Strecke der Ewigkeit als Volk zu existieren, ehe sie wieder verschwanden, auf die eine oder andere Weise.
    Sie mußte sich plötzlich beherrschen, um nicht die Hand auszustrecken und die gläserne Wand dicht vor sich zu berühren, obwohl sie wußte, daß es sie töten würde. Was aussah wie eine Wand aus mattem Glas, die sich in einem sanften Wind bog und verzerrte, das war ein Fallen und Reißen von so ungeheuerlicher Wucht, daß schon die flüchtigste Berührung ausreichen mußte, sie von den Füßen und in die Tiefe zu reißen.
    Und vielleicht wäre dieser der beste Ausweg. Das einzige, was Sinn machte.
    Sie vertrieb den Gedanken, trat langsam einen Schritt vom Ende der stählernen Röhre zurück und nickte den beiden Quorrl zu.
    Sie hatten Skars Leichnam in den schwarzen Mantel eines Hohen Satai gewickelt und hierher zurückgetragen, an den einzigen Ort in dieser angstmachenden unterirdischen Welt aus rotem Licht und Furcht, an dem der Tag herrschte. Der einzige Ort, der eines Mannes wie Skar würdig war.
    Seltsam — sie empfand beinahe keine Trauer. Trauer war etwas, das stets mit Hadern verbunden war — mit dem Verlust eines Menschen, der zu früh gegangen war, obwohl es nicht hätte geschehen dürfen.
    Aber er hatte nicht anders enden können als so. Er hatte den Tod gesucht; vielleicht seit dem Tag seiner Geburt.
    Titch und Rowl hoben den toten Körper gemeinsam hoch und traten an ihr vorbei. Sie zögerten einen Moment, und Titch sah sie an, als erwarte er, daß sie etwas sagte; irgend etwas von Gewicht, oder vielleicht auch nur ein Gebet.
    Aber sie schwieg. Es war alles gesagt worden, was zu sagen war. Rowl hatte vorgeschlagen, Skars Leichnam mitzunehmen und ihn mit den Ehren eines Königs zu begraben, aber sowohl Titch als auch sie hatten diesen Vorschlag abgelehnt. Er war hier heruntergekommen, um sein Leben für seine Welt zu geben, und es wäre ihnen beiden wie Verrat vorgekommen, hätten sie seinen toten Körper mit zurückgebracht, nach oben, in die Welt, für die er so viel geopfert und die ihm so wenig dafür zurückgegeben hatte. Er sollte gehen, wie er gekommen war — still und unbemerkt, ein Mann, der aus dem Nichts erschien und ins Nichts verschwand. Und gab es ein würdigeres Grab für ihn als
dies?
Sie gab Titch einen Wink mit den Augen, und er und der Bastard warfen den toten Körper mit aller Macht in den Sturz hinein. Die gläserne Wand teilte sich, schien ihn für den Bruchteil einer Sekunde schwerelos zu halten — und schloß sich wie ein Vorhang aus kristallener Schwärze. Er würde auf ewig dort unten liegen, gehalten und behütet von der Urkraft der Schöpfung selbst.
    »Eine Minute«, murmelte Rowl. »Wären wir nur eine Minute früher gekommen…«
    »Es hätte nichts geändert«, antwortete Kiina. »Ich glaube, er hat es so gewollt.«
    »Niemand will sterben«, murmelte der Bastard.
    »Er hat die Unsterblichkeit kennengelernt, Rowl. Nur für wenige Tage, aber er hatte die Macht und das Wissen eines Gottes. Welchen Sinn kann ein Leben haben, wenn man die Ewigkeit verloren hat?«
    Titch und Rowl
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher