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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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Die ganze Zeit sehe ich diese bösen Männer vor mir. Was werden sie wohl mit meiner Mama anstellen? Wohin haben sie sie gebracht? Warum kommt sie nicht zurück? Ich bin so von meinem Kummer beherrscht, dass ich Mirko vollkommen aus den Augen verliere. Mir ist nicht einmal bewusst, ob er überhaupt noch in der Wohnung steckt. Ich halte mir die Ohren zu und wimmere vor Verzweiflung. Ich kann nicht mehr klar denken. Ich will nichts essen, nichts wissen, mit niemandem reden. Irgendwann muss ich vor Erschöpfung eingeschlafen sein.

Gera, Dezember 2009
    Wenn ich heute am Fenster meiner Dachwohnung stehe und den Blick über meine in die Hügel eingebettete Heimatstadt schweifen lasse, dann muss ich über eine kahle Befestigungsanlage hinwegsehen. Unmittelbar zu meinen Füßen, welch denkwürdiger Ausblick, liegt die Justizvollzugsanstalt von Gera. Der gelbe Klinkerbau aus einem anderen Jahrhundert verschanzt sich hinter hohen Betonmauern, die eine Borte aus Stacheldraht tragen. Mit den vielen kleinen Türmchen erinnert er an eine abweisende Märchenburg. Manchmal kann ich den Häftlingen beim Hofgang zusehen, gelegentlich auch beim Tischtennisspiel. Grüne Gefangenentransporter passieren regelmäßig mein Haus, verschwinden hinter den schweren Eisenschleusen und entlassen ihre Insassen in die Unfreiheit.
    Auch in diesen Bunker hat inzwischen der Rechtsstaat Einzug gehalten. Während ich von meiner Dachschräge aus hinuntersehe, wandern meine Gedanken zurück in die Zeit davor. Ich stelle mir vor, wie meine Mutter vor beinahe vier Jahrzehnten hinter einem der vergitterten Fenster auf der Pritsche gekauert hat. Für kurze Zeit hat ihre Odyssee durch diverse Strafarbeitslager und Zellen sie damals, im Jahr 1972 , auch in dieses Gefängnis geführt. Was ist ihr wohl durch den Kopf gegangen, als sie damals an die Decke stierte? Ist sie verzweifelt an ihrem zerbrochenen Lebensglück? Hat sie sich ungerecht behandelt und beraubt gefühlt? Oder hat sie mehr mit sich selbst gehadert?
    Ganz sicher hat sie viel an Mirko und mich gedacht, ihre verlorenen Kinder. Sie wird uns schmerzlich vermisst haben, heute bin ich mir dessen ganz sicher. Jetzt, da ich selbst eine Tochter und einen Sohn habe, die im Begriff sind, mein Haus zu verlassen, beginne ich zu begreifen, was meine Mutter damals durchgemacht haben muss. Als kleines Mädchen dagegen hatte ich keinen blassen Schimmer, wohin die Männer sie abtransportierten. Ich konnte nicht ermessen, dass es gar nicht in ihrer Macht lag, ihre Versprechen einzuhalten. Nicht in meiner kühnsten Fantasie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass wir unser überstürzt verlassenes Heim nie wieder betreten würden. Erst recht ahnte ich nicht, welche Hintergründe die beängstigenden Vorkommnisse hatten und welche Rolle der Staat spielte, in den ich so arglos hineinwuchs.
    Damals hatte ich noch nicht einmal eine Vorstellung davon, was ein Gefängnis war. Als viereinhalbjähriges Mädchen, das sich bis dahin bei seiner Mutter geborgen gefühlt hatte, war ich einfach nur sauer auf sie. Ich war verletzt und panisch vor Angst, weil sie offenbar ihr Wort nicht hielt. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Natürlich suchte ich die Schuld auch bei mir, wie jedes Kind in solch einer Situation. Was hatte ich nur falsch gemacht, dass meine Mama nicht mehr zu mir zurückkam?
    Es gab niemanden, der auch nur den Versuch unternahm, meinem Bruder und mir zu erklären, was da vor sich ging. Wir waren umgeben von einer Wand des Schweigens, der Lügen und Beschwichtigungen. Ohne Trost und ohne Sicherheit. Es blieben nur Zweifel, Fragen und immer neue Verwirrungen. Um uns war ein undurchdringliches Geheimnis. Wie ein Sturm rissen uns die Ereignisse mit sich und nahmen uns jeglichen Halt.
    Doch eines hatte ich schon damals instinktiv gespürt: Dies ist der Tag, jener 7 . Februar 1972 , der mein Leben umwälzt, alles verändert. Er war die Wegscheide zwischen dem, was vorher war, und dem, was nachher kam. Ein Einschnitt, ein Riss durch meine Seele. Alles, was nach diesem Tag mein Leben bestimmte, besaß keine Festigkeit mehr, erwies sich später als Fassade, die irgendwann einstürzen musste. Ein Zwiespalt, der immer wieder – bis heute – dazu führt, dass ich mich hin- und hergerissen fühle, selbst wenn vordergründig mein Dasein beständig scheint.
    Im Grunde sind es meine Kinder, die mir die Kraft und den Mut geben, mich meiner eigenen schmerzhaften Geschichte noch einmal auszusetzen. Sie sollen nachfühlen
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