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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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versprochen, daher vermied ich es, meinen inneren Aufruhr zu zeigen. Am Abend wird sie schon wiederkommen, beruhigte ich mich. Bis dahin ließ es sich hier wohl ganz gut aushalten. Mein Bruder war ja bei mir. Die Kinder waren zugänglich und die Betreuerinnen uns wohlgesinnt. Die Leiterin des Staatlichen Vorschulheims der Stadt Gera, Frau Heinze, nahm uns freundlich auf.
    Ich fasste bald Vertrauen und fragte sie forsch: »Tante, wann kommt denn unsere Mama wieder? Holt sie uns hier ab?«
    Vertraulich beugte sie sich zu mir, strich mir über die Wange und sah mich dabei mit einem Blick an, der besagte: Du musst jetzt schön tapfer sein. Ihre Worte wollten aber so gar nicht dazu passen: »Weiß nicht. Wirst sehen. Wart’s ab.«
    So klein ich noch war, merkte ich doch, dass sie mehr wusste, als sie uns sagen wollte. Dann unternahm ich einen letzten Versuch. »Dürfen wir morgen wieder nach Hause?«
    Statt einer Antwort dirigierte die Heimleiterin meinen Bruder und mich liebevoll, aber bestimmt in den Raum, wo die anderen Kinder spielten. Mir war aber nicht nach Spielen zumute. Ich wollte so schnell wie möglich heim. Ein Seitenblick auf Mirko bestätigte mir, dass es ihm nicht anders erging.
    Zum Glück nahmen sich die anderen Kinder, alle im Alter zwischen drei und sieben Jahren, unser an. Es war auffällig, dass sie ziemlich einheitlich gekleidet waren. Selbst Jungen trugen drinnen Strumpfhosen und Pullover, und die Mädchen hatten Kunstfaserschürzchen an, die sie ähnlich aussehen ließen. Sie zeigten uns den ungewöhnlich umfangreichen Spielzeugbestand, den es hier gab: Rutsche, Roller, Bälle, Springseile, Bastelsachen. Von solchen Schätzen konnten wir zu Hause nur träumen, denn über einen Bollerwagen reichte der Fuhrpark in den Familien, die ich kannte, nicht hinaus. Ein Tretroller war für die meisten Eltern unerschwinglich. So gesehen hatten wir hier ein kleines Schlaraffenland aufgetan.
    Auch die acht Erzieherinnen, die meisten von ihnen noch ziemlich jung, behandelten uns freundlich, und die Versorgung war gesichert. Die Küchenfrauen, die mich gleich bei der ersten Begegnung in ihr Herz schlossen und an ihren wallenden Busen drückten, gaben mir unter der Hand einen kleinen Schluck Brause oder Kakao zu trinken – viel leckerer als der obligatorische Früchtetee. Wir aßen zu Mittag, wir schliefen, wir spielten, wir aßen zu Abend. Die Portionen waren dabei streng rationiert. Wenn die aufgetischte Stulle aufgezehrt war, gab es zu meiner Verwunderung keinen Nachschlag.
    Irgendwann wurde es dunkel, und Oma war immer noch nicht da. Als wir die Treppe hochgeführt wurden und jeder im Schlafsaal ein Gitterbettchen zugewiesen bekam, war ich endgültig verwirrt. Von Übernachten war bei unserer Ankunft aber nicht die Rede gewesen. Doch jetzt gab es auf meine Fragen gar keine Auskunft mehr. Ich war froh, bei meinem Bruder bleiben zu können, und wich ihm den ganzen Abend nicht von der Seite.
    Rund zwanzig Kinder – Mädchen und Jungen zusammen – teilten sich den Schlafsaal. Zum Einschlafen gab es für alle ein Märchen als Gutenachtgeschichte. Ich liebte Geschichten, aber dieser Erzählung vermochte ich, in Tränen aufgelöst, nicht zu folgen. Ich verkroch mich unter der blau-weiß karierten Einheitsdecke und fand nur schwer in den Schlaf. Erneut ein fremdes Bett. Ich wusste allmählich nicht mehr, wo ich eigentlich zu Hause war.
    Am nächsten Morgen dauerte es eine Weile, bis mir einfiel, an welchem Ort ich mich befand – beiläufig abgeliefert, aber nicht wieder abgeholt. Welchen Versprechungen konnte ich noch Glauben schenken? Steckte womöglich doch ein wenig Wahrheit in dem, was die anderen Kinder später im Garten erzählten? »Deine Mama kommt nicht mehr!«, riefen sie wie zum Hohn. Neugierig, wie sie waren, hatten sie wohl von den Erzieherinnen aufgeschnappt, dass meine Mutter ihrer Freiheit beraubt worden war. Ein Drittel der Kinder hatte selbst keine Eltern mehr, die sie hier herausholen konnten. Waren sie eifersüchtig, dass mir noch eine Mutter geblieben war?
    Meine aufgestaute Verzweiflung brach aus mir heraus. »Ihr lügt!«, schrie ich, laut und trotzig. »Sie hat gesagt, sie kommt wieder!« Von neuem liefen mir die Tränen übers Gesicht, ich konnte sie einfach nicht aufhalten.
    Gottlob stand mir mein Bruder bei. »Lasst sie in Ruhe!«, sagte er in Beschützerpose. Mirko bewahrte mich mehr als einmal vor Angriffen und Nachstellungen. Er hat, seit ich zurückdenken kann, auf mich
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