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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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können, wie ich zu dem Menschen wurde, der ich geworden bin. Auch für sie will ich herausfinden, wo ich herkomme, wer ich wirklich bin, welche Lasten der Vergangenheit ich mit mir trage und unbewusst an andere weiterreiche. Sie helfen mir, meinen versprengten Lebensweg selbst zu begreifen und nachzuforschen, welche äußeren Kräfte unsere scheinbar intakte Dreisamkeit damals zersprengen konnten.
    Wie häufig bei Kindern von Alleinerziehenden hingen Mirko und ich ganz besonders eng an unserer Mama. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Er war wohl während seiner Wehrdienstzeit bei der Nationalen Volksarmee in Gera stationiert, als die flüchtige Beziehung entbrannte, deren Frucht ich bin. Meine Mutter hat mir nichts von ihm erzählt. Ich könnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob er auch der leibliche Vater meines Bruders ist.
    Das Leben hat es von Beginn an nicht gut mit Mama gemeint. Ursprünglich einer ländlichen Großfamilie entstammend, hat sie schon als Vierzehnjährige nach einem Streit ihr Elternhaus verlassen, mit nichts als einem Koffer und ihren Jugendweihegeschenken in der Hand. Kurz darauf bekam sie ihr erstes Kind, das mit elf Monaten an einem Fieberkrampf starb. Mit siebzehn Jahren war sie erneut schwanger und musste sich ganz allein in dieser schwierigen Situation zurechtfinden. Sie musste ihren Lebensunterhalt verdienen, ohne je einen Beruf erlernt zu haben. Zur Zeit meiner Geburt war sie knapp zwanzig Jahre alt, aber sie hatte es offenbar leidlich gut gelernt, sich selbst zu behelfen. Selbst der schlechte Leumund, der partnerlos lebenden Müttern in jenen Jahren anhing, schien sie nicht weiter zu beirren. Sie kümmerte sich hingebungsvoll um uns zwei Kinder (so jedenfalls sagt es mir mein Erinnerungsgefühl) und ging wechselnden Jobs nach. Eine Weile war sie als Wäscherin und als Reinigungskraft in einem Jugendheim tätig.
    Zu DDR -Zeiten wurde diese Doppelbelastung durch ein gut ausgebautes Betreuungswesen aufgefangen. Es war der Normalfall, dass Mütter berufstätig waren, daher konnten sie ihre Kinder von klein auf in einer Krippe oder Kindertagesstätte abgeben. Schichtarbeiterinnen standen werktags sogar Wochenkrippen zur Verfügung, bei Bedarf rund um die Uhr.
    Und davon gab es eine Reihe in Gera. Viele der mehr als hunderttausend Einwohner waren bei der nahe gelegenen Wismut beschäftigt, einem der größten Kombinate der DDR . Mit insgesamt über zweihunderttausend Tonnen Erz aus Europas größter Urangrube wurden die Atomanlagen des »Großen Bruder«-Staates, der Sowjetunion, beliefert. Unsere Region erfuhr dadurch einen immensen Aufschwung, Arbeitskräfte waren gesucht. Kinder durften dabei kein Hindernis sein, also übernahm der Staat bereitwillig deren Erziehung.
    Wohnraum war damals ein knappes Gut, denn für die Heerscharen der Werktätigen musste ausreichend Quartier geschaffen werden. So veränderte Gera in den siebziger Jahren grundlegend sein Gesicht. Raum vertrieb die Enge. Besonders der marode Altbaubestand galt in der Musterstadt des Fortschritts als nicht mehr zeitgemäß. Ganze Straßenzüge fielen der Abrissbirne zum Opfer.
    Wenn ich jetzt aus meinem Dachfenster sehe, bleibt mein Blick an Plattenbauten und Hochhäusern hängen, die großräumig einige Kahlflächen umrahmen. Das mochte in den siebziger Jahren als Ausdruck des Fortschritts gegolten haben. Heute sieht das alles reichlich planlos, halbherzig, willkürlich aus. Die gesamte historische Neustadt Geras aus der Rokokozeit wurde 1973 für das neue »sozialistische Stadtzentrum« einfach aus dem Weg geräumt, die Straßenbahntrasse sogar umgebettet. Praktische Nutzbauten in Fertigbauweise ersetzten viele heruntergekommene Altstadthäuser, die seit dem Zweiten Weltkrieg dem Verfall preisgegeben waren.
    Wenn ich heute über die Schauplätze meiner frühen Kindheit schlendere, habe ich immer noch Schwierigkeiten, mich zurechtzufinden. Als ich nach der Wende wieder in meine Heimatstadt zurückgekehrt bin, hat es eine ganze Weile gedauert, bis mir dämmerte, dass der neu errichtete Straßenzug unweit des Marktplatzes einstmals unsere kleine Familie beherbergt hat. Nur das Kopfsteinpflaster der Gasse erinnert heute noch an die Stätten meiner Kindheit. Wo ich damals aus dem Treppenhaus auf die Straße rannte, begrenzen heute rötlich schimmernde Plattenmauern das Blickfeld. Damit gibt es so gut wie keine Anhaltspunkte für die Bilder in meinem Gedächtnis. Wie ein Sinnbild erscheint es mir, dass die meisten
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